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Frisch Gelesen Folge 10: Ardalén

Ardalén

»Die Bestätigung, dass all diese Informationen weiterhin dort vorhanden sind und jeden Morgen beim Aufstehen zu unserer Verfügung stehen, verleiht uns das sichere Gefühl zu wissen, dass wir noch derjenige sind, der wir zu sein glauben.«


FRISCH GELESEN: Archiv


ArdalénArdalén

Story: Miguelanxo Prado
Zeichnungen: Miguelanxo Prado

Egmont Comic Collection
Hardcover | 256 Seiten | Farbe | 29,99 €
ISBN: 978-3-7704-3695-8

Genre: romantisches Abenteuer

Für alle, die das mögen: philosophische Gedankenspiele, Galizien


Reden wir nicht lange um den heißen Brei: Miguelanxo Prado, der ausgebuffte Galizier, macht es dem Leser nicht leicht. Die Lektüre seiner neuen Graphic Novel Ardalén ist eine ganz schöne Herausforderung, die allerhöchste Konzentration vom Leser verlangt.

Hinter (und neben) all den wirklich bezaubernd schönen Zeichnungen dieses in der Tat schwergewichtigen Buches hat Prado ein ganz schön kniffliges Puzzlespiel konstruiert, das nicht mal eben so vorm Schlafengehen zu lösen ist. Wer sich darauf einlässt, wird mit einer ausgeklügelten, zum Nachdenken anregenden Lektüre belohnt, die lange im Bewusstsein nachhallt. Wer allzu schnell kapituliert, dem geht es möglicherweise so, wie dem alten Fidel, einer der beiden Hauptpersonen in Ardalén, denn der alte Mann hat Probleme, zu unterscheiden, was er von seinem langen Leben wirklich erlebt hat und was nicht.

Ardalén

Was löst Erinnerungen aus? Musik?

Es fängt schon mit dem Titel des Comics an: Ardalén. Das ist ein »warmer und feuchter Wind aus Südwest, der Regen bringt«. Noch bevor der Comic beginnt, wird dieser Begriff erklärt. Nur hat man bis dato noch nie etwas davon gehört. Das ist auch kein Wunder, denn diesen Wind gibt es nur bei Prado. Der pseudolexikalische Eintrag, der dieses Wort definiert, ist Teil eines faszinierenden Mosaiks, das aus vielen verschiedenen Textsorten besteht. Immer wieder wird die Graphic Novel unterbrochen von wissenschaftlichen Artikeln, Briefen, oder auch mal von einem Gerichtsurteil und gar einem Verrechnungsscheck. Alles ist täuschend echt, aber doch fiktiv, und letztlich dafür verantwortlich, dass das gesamte Zusatzmaterial mit dem Comic zusammen eine eigene Realität erschafft. Denn eigentlich gilt: Steht etwas auf einem Dokument schwarz auf weiß, dann muss es echt sein. Oder? Auch wenn man sich später nicht mehr aktiv daran erinnern kann.

Ardalén

Wenn der Ardalén weht, fliegen Fische durch die Luft

Und schon sind wir beim zentralen Motiv von Ardalén: Erinnerungen. Prado schafft es, die ganz großen philosophischen Saiten im Geiste des Lesers zum Schwingen zu bringen. Was ist eine Erinnerung? Sind die Dinge, an die man sich erinnert, die wirklich wichtigen im Leben gewesen? Wie stark lässt die Erinnerung im Alter den Menschen im Stich? Und ist das, an was man sich erinnert, wirklich alles so passiert?

»Wir sind, woran wir uns erinnern« ist der Titel eines dieser Hirnschmalz verbrauchenden Texte, die in Ardalén zu finden sind. Zwischen Kapitel 2 und 3 des Buchs zitiert eine gewisse Eva Fontes einen gewissen Roberto G. Méndez: »Wenn wir uns plötzlich an alles, was wir vergessen haben, erinnern würden, wären wir eine andere Person. Volkommen anders. Und dennoch wäre diese neue und andere Person, die sich dieses Erinnerungswechsels nicht bewusst wäre, vollkommen sicher, das sie diejenige ist, die ihr das Gedächtnis vorgibt zu sein. Und zwar nicht erst seit dem Augenblick des Wechsels, sondern seit Anbeginn der Zeit, an die sie sich erinnern kann.«

Ardalén

Foto aus einer vergangenen Zeit

In Ardalén schickt Prado die Mittdreißigerin Sabela auf die Suche nach Informationen aus der Vergangenheit in ein abgelegenes Bergdorf. Ein ehemaliger Freund ihres Großvaters soll in dem Kaff leben. Von Sabela nach deren Nachfahren befragt, schicken die Dorfbewohner die Suchende ausgerechnet zum alten Fidel, der buchstäblich nicht mehr ganz frisch im Kopf ist und sich an gar nichts mehr wirklich erinnern kann. Der Eremit hat sich aus seinen Erinnerungen eine eigene Realität erschaffen, in der verschiedenste Personen auftauchen, wie ein alter Freund oder eine ehemalige Geliebte - und vielleicht sogar der Großvater von Sabela, der in den 1930er Jahren nach Kuba ausgewandert sein soll.

Prado bedient sich einer höchst interessanten Variante der Form des »unzuverlässigen Erzählens«. Im Laufe der Gespräche zwischen Sabela und Fidel und weiteren Episoden mit den Dorfbewohnern, die allesamt immer wieder von Rückblenden unterbrochen werden, entsteht eine Geschichte, von der man sich nie ganz sicher ist, ob sie wirklich so passiert ist. Wie könnte man auch, denn Fidel ist ein Mensch, der an manchen Tagen stundenlang auf einem Felsen am Waldrand sitzt und wartet bis er Walgesänge hört, die das Kommen riesiger Meeressäuger ankündigen, die anschließend majestätisch in großformatigen Bildern durch den Himmel gleiten.

Ardalén

Fidel kann sie sehen: An manchen Tagen gleiten wirklich Wale durch den Himmel

Ardelén glänzt als Gesamtkunstwerk. Die teilweise surreale Verschmelzung von Traum und Erinnerung, der raffinerte Einsatz verschiedenster Erzählformen und besonders die vollendet schöne Kreidestrichtechnik Prados heben diese Graphic Novel über alles hinaus, was dieses Jahr unter dem Label so erschienen ist. Das ist reine Gedankennahrung im besten Sinne, wie sie nur das Medium Comic möglich macht. ¡muy bien!

[MH]

Abbildungen © Miguelanxo Prado, Egmont Comic Collection


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