Frisch Gelesen Folge 210: Joker – Killer Smile

»Sag Harley nichts, aber er macht meine Seele vollständig.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Joker – Killer Smile

Story: Jeff Lemire
Zeichnungen: Andrea Sorrentino

Panini Comics
Hardcover | 156 Seiten | Farbe | 29,00 €
ISBN: 978-3-741-62235-9

Genre: Thriller

Für alle, die das mögen: Mad Love, HARLEEN, Gotham Central



»Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein« – fast jeder kann das bekannte Zitat von Nietzsche aus dem Stegreif vervollständigen. Sicher auch Dr. Ben Arnell. Doch selbst der ambitionierte Psychiater unterschätzt allen Warnungen zum Trotz, wie tief es beim Joker wirklich hinabgeht … Zwar startet er in bester »Zwei Menschen – eine Wand aus Sicherheitsglas«-Manier mit seiner Gesprächstherapie, merkt aber schnell, dass es eben nicht so einfach wird mit diesem Clown. War vielleicht etwas zu ambitioniert, der Plan: die Psyche des Jokers ergründen. In zwei Wochen. Und direkt auch heilen, quasi in einem Abwasch. Dreckiges Geschirr kann mit der Zeit ein äußerst gruseliges Eigenleben in der Spüle entwickeln, aber gegen den Joker, dem ja schon länger ein paar Tassen im Schrank fehlen, ist das – natürlich – ein Witz. Wir alle wissen – spätestens seit dem Joker und frühestens seit Dr. Hannibal Lecter –: auch wenn das Monster hinter einer Scheibe sitzt, seine schärfste Waffe hält sie niemals auf: seine Worte. Und so tröpfelt das Gift des Jokers langsam in den Verstand des Psychiaters, ohne dass er es merkt. Denn natürlich ist der Joker nicht nur wahnsinnig, sondern auch wahnsinnig manipulativ und gerissen. So sehr sich Arnell auch bemüht, in die Psyche des Jokers zu schauen, der Joker scheint im Dunklen einfach besser sehen zu können. Während er, der vermeintlich Verrückte, sich seiner selbst und seiner Wahrheit immer bewusst und sicher zu sein scheint, verschwimmt die Realität für den Arzt schleichend, aber unaufhaltsam. Sein Zeitgefühl kommt durcheinander, er weiß bald nicht mehr, wie lange er eigentlich schon mit dem Joker verbracht hat. Es waren doch nur ein paar Wochen, oder? Oder?!


Vertrautes Setting: der Joker, ein Arzt und dazwischen jede Menge Sicherheitsglas.


Aber Moment mal, kommt uns das Setting nicht irgendwie bekannt vor? Richtig! Das letzte Mal, als ein junges Talent der Psychiatrie in den dunklen Abgrund hinter der bunten Fassade geblickt hat, wurde aus Dr. Harleen Quinzel Harley Quinn. Ein Top-Autor wie Jeff Lemire kann aus der bekannten Geschichte trotzdem noch einiges rausholen. Und sowieso, ein Liebespaar werden die beiden in diesem Fall ja nicht. Oder vielleicht doch? Man könnt es so ausdrücken: Wenn Batman die große Liebe des Jokers ist und Harley Quinn seine Geliebte (war), dann ist die Beziehung zwischen Dr. Arnell und dem Joker eine Bromance.


Passender Stil: Die Zeichnungen schwanken zwischen Düsternis und Kinderbuch.


Wie bereits erwähnt, ist das Setting gewiss nicht neu – auch im ebenfalls enthaltenen One Shot Batman: The Smile Killer nicht (ist Bruce Wayne nur ein Verrückter in Fledermauskluft?) –, aber Jeff Lemire versteht es einfach, die Geschichte spannend wie einen Thriller zu erzählen und mit genügend Gänsehaut-Momenten zu bestücken. Auch wenn (oder gerade weil!) sich ein Großteil der Geschichte in der Psychiatrie und im Haus von Dr. Arnell abspielt, mit kurzen Ausreißern in die bunte Welt eines verrückten Kinderbuches, und Batman hier – bis auf den One Shot – nur am Rand eine Rolle spielt.

Der Stil von Andrea Sorrentino passt wie die Faust aufs Auge. Er wirkt düster und realistisch und verleiht dem Ganzen einen gewissen Gotham-Central-Flair, schafft es aber gleichzeitig auch, Albträume und Halluzinationen gekonnt einzufangen. Und die Kinderbuch-Passagen sehen so bunt und fröhlich aus, wie man es sich bei einem Kinderbuch eben vorstellt. Vom verstörenden Inhalt mal abgesehen … Happy Tree Friends lassen grüßen!


Nichts ist, wie es scheint: Hinter der bunten Fassade lauert der Abgrund.


Aber was ist denn nun mit Dr. Arnell? Nun, es gibt sicher einige Berufe, in denen man seinen Angestellten rät, die Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen, und wenn die Arbeit sich um den Geisteszustand eines verrückten Killerclowns dreht, dann ist dieser Rat besonders wertvoll. Vor allem, wenn man eine Frau und einen kleinen Sohn zu Hause hat … Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter spoilern, aber ich bin mir sicher, dass Nietzsche daran seine helle Freude gehabt hätte. Der hat nämlich noch ein sehr passendes Zitat auf Lager: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird.«

[Joanna Gawronska]

Abbildungen © 2021 Panini Comics / Jeff Lemire, Andrea Sorrentino


Kauft den Comic im gut sortierten Comicfachhandel: CRON-Händlerverzeichnis

Oder beim Verlag: Panini