Frisch Gelesen Folge 119: Das Goldene Zeitalter 1

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»Eine unserer Regeln steht über allen anderen. Wir kennen hier weder Herrschaft noch Dienerschaft. Niemand ist jemandem untertan. Bedenkt das wohl, solange ihr unter uns weilt.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Das Goldene Zeitalter Band 1

Story: Roxanne Moreil
Zeichnungen: Cyril Pedrosa

Reprodukt
Hardcover | 232 Seiten | Farbe | 29,00 €
ISBN 978-3-95640-183-1

Genre: Fantasy

Für alle, die das mögen: Cerebus (Dave Sim); Portugal (Cyril Pedrosa)


Dieser Comic spricht für sich. Du schlägst ihn auf und es beginnt mit dieser Doppelseite:

Eine visuelle Explosion zwischen Hokusai und Mandelbrotmenge, Charley Harper und, klar, Zeichner Cyril Pedrosa selbst, von dem schließlich schon einige auch visuell sehr beeindruckende Werke in Deutschland veröffentlicht wurden: Jäger und Sammler, Portugal und Drei Schatten (alle Reprodukt). Letzteres, sein deutsches Debüt, war ebenfalls ein Fantasycomic. Und schon damals bemühte sich Pedrosa, das Unnennbare zu zeigen. Aber das gelang ihm bei Weitem nicht so gut wie heute:

Gut gezeichnet, klar, finden wir alle toll. Aber beim Fantasycomic kommt noch etwas hinzu. Schließlich geht's um das Phantastische, Unbegreifliche, Jenseitige, und da hilft kein Realismus oder gar Ligne claire. Das Phantastische muss so anders aussehen, dass man eigentlich nicht genau weiß, was man sieht, und es zugleich doch versteht. So als würde man einen Wald betreten und etwas von dessen Alter oder seiner Größe spüren. Oder wie das Gefühl nach einem unbegreiflichen Traum, das zugleich vage und glasklar ist.

Dafür sind Comics eigentlich perfekt. Doch es findet selten statt. Oft genug scharen sich kleine, spitzohrige Wesen in kleinen Lederwämsern zu kleinen Gruppen, um mit kleinen Schwertern kleine Aufgaben zu erledigen. Das Phantastische erstickt zwischen Funny-Anleihen und Ultra-Realismus in Standard-Panels, oft 6er- oder 8er-Grid, wie bei Donald Duck. Nichts gegen Donald Duck! Aber der lebt auch nicht auf Mittelerde.

Bei Cyril Pedrosa gibt es ebenfalls Panels, wenn es die Handlung erfordert,

aber wenn es darauf ankommt, eine Bewegung oder gar ein großer Moment vermittelt werden soll, dürfen die Bilder sprechen, häufig ganzseitig

manchmal sogar als doppelseitige Panoramen, die zum Beispiel die Größe eines Schreckens vermitteln:

Die Handlung? In einem Königreich, in dem das Volk leidet, seit der König tot ist, wird die Thronerbin kurz vor ihrer offiziellen Krönung von Verschwörern entmachtet. Mit treuen Gefährten flieht sie in die Provinz, wo sie eine Armee aufbauen will und dabei mit einer Legende konfrontiert wird.

Ja, das hat man alles schon mal irgendwie gehört, aber das Themenspektrum des Genres ist eben arg beschränkt. Doch der Szenaristin Roxanne Moreil, die mit dem Band in Deutschland debütiert, gelingt es, selbst Klischees eine ungeahnte Tiefe zu geben. Ihr Trick ist simpel: Anstatt die Handlung voranzutreiben, als ginge es um eine Quest in einem Fantasy-Game, baut sie eine vielschichtige Welt, indem sie etliche, zum Teil recht abwegige Nebenfiguren zu Wort kommen lässt. Da beklagen sich etwa gleich zu Anfang ein paar Handlager über ihr Elend, auch beim anschließenden Einzug in die Stadt ertönen viele Stimmen, die nichts mit der Handlung zu tun haben, und so hat sich vor dem Leser längst das Szenario aufgebaut, bevor nach rund 30 Seiten schließlich die Hauptfiguren auftauchen.

Wer auf zackig marschierende Storylines steht, wird die schlendernde, abschweifende Erzählform erst mal schwierig finden. Wer dagegen interessiert ist an Epen, komplexen Seitenkompositionen wie etwa dieser

und überhaupt modernen Comics, in denen ganz selbstverständlich aktuelle Diskurse thematisiert werden, ist hier richtig. Das gilt übrigens auch für Menschen, die eigentlich keine Fantasycomics lesen, weil sie denken, das sei Kinderkram: Hier erstrahlt das ausgelutschte Genre auf dem hohen Niveau einer klugen Graphic Novel.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2019 Reprodukt


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