»Schauen Sie doch kurz herein!«
FRISCH GELESEN: Archiv
Rote Blüten
Story: Yoshiharu Tsuge
Zeichnungen: Yoshiharu Tsuge
Reprodukt
Softcover | 400 Seiten | s/w | 24,00 €
ISBN: 978-3-95640-191-6
Genre: Gekiga, Kurzgeschichten, Reiseerzählungen, Slice of Life
Für alle, die das mögen: Shigeru Mizuki und Jirô Taniguchi
Dieser Band ist etwas Besonderes. In vielerlei Hinsicht. Wer die Gründe dafür erfahren möchte, kann ihn in gewohnter Leserichtung aufschlagen. Dort, wo europäische Comics anfangen und japanische enden, hat Mitsuhiro Asakawa ein Nachwort verfasst, das keine Wünsche offenlässt. Ein fundierter Abriss über Yoshiharu Tsuges Werk: analytisch, hintergründig und verständlich. Wer sich überraschen lassen möchte, fängt am anderen Ende an. Denn das Besondere erschließt sich bei der Lektüre größtenteils von selbst. Schon die ersten der 400 schön gestalteten Seiten ziehen uns in eine eigentümliche Welt:
Chiko (März 1966)
Diese erste von 20 Kurzgeschichten heißt Chiko. Sie erzählt von einem jungen Ehepaar und ihrem Reisfinken, der den 18, scheinbar flüchtig aufs Papier geworfenen Seiten ihren Namen gibt. Und sie enthält das im Nachwort so präzise beschriebene Werk und Wirken Tsuges in nuce. Chiko kreuzt Großstadtimpressionen mit häuslichen Expressionen – szenisch und ziellos, atmosphärisch und metaphorisch, mitunter autobiografisch. Der Ehemann ist wie Tsuge Zeichner, seine Frau eine Animierdame in einer Bar. Abseits der gewohnten Dramaturgie treibt ihr Alltag in den Panels einfach dahin. Das Unausgesprochene übersetzt Tsuge in Natursymbolik. So wie der Reisfink als Bild für die Freiheit gelesen werden kann, der im sozialen und matrimoniellen Käfig die Flügel gestutzt werden, so wohnen Flora und Fauna in den Geschichten meist mehrere Bedeutungsebenen inne. In der Titelstory aus dem Oktober 1967 stehen die roten Blüten für die erste Menstruation der Protagonistin und in Der Sumpf eine Schlange für das sexuelle Erwachen und Verlangen:
Der Sumpf (Februar 1966)
Diese Geschichte rief 1966 Empörung hervor. Das offene Ende und die makabere Erotik hätten Leser und Zeichnerkollegen irritiert zurückgelassen, erklärt Asakawa im Nachwort. Im vorliegenden Sammelband, der Werke von Februar 1966 bis April 1973 vereint, dabei aber nicht chronologisch anordnet, steht sie an zweiter Stelle. Wie Chiko kann auch Der Sumpf als exemplarisch gelten. Beide wenden Verfahren der aus der Literatur übernommenen Technik der Icherzählung an. Beide sind für die Zeit ungewohnt direkt im Umgang mit Privatem und Intimem. Tsuges Kurzgeschichten und Reiseberichte sind immer auch Reisen ins Innere, wo Laster und Lust hausen, wo Depressionen und Angstzustände wohnen:
Der Inhaber des Gensenkan (Juli 1968)
Yoshiharu Tsuge, 1937 in Tokio geboren, wird in Japan in einem Atemzug mit seinem 1989 verstorbenen Kollegen Osamu Tezuka genannt. Und das, obwohl er seit 1987 keinen neuen Manga mehr veröffentlicht hat. Dass seine Werke jetzt neben Italien, Frankreich und den USA auch in Deutschland erscheinen, ist eine kleine Sensation. Denn der Altmeister hat deren Übersetzung in den vergangenen Jahrzehnten beständig blockiert. Seine Manga sind ganz anders als die des Astro-Boy-Machers Tezuka und doch nicht minder lesenswert. Wer die ruhigen Lebensbetrachtungen eines Jirô Taniguchi liebt, wird auch Tsuge mögen. Seine kurzen Reiseerzählungen entfalten eine vergleichbare Kraft, sind dabei aber weniger von Nachdenklichkeit und Melancholie geprägt, sondern von Einsamkeit, Erotik, Komik und Tod durchzogen. Mal alberne, mal abgründige Ausflüge in entlegene Landesteile, abseits der Touristenhochburgen:
Die Ondol-Hütte (April 1968)
Neben seiner Bedeutung als Neuerer der Neunten Kunst erweist sich Tsuge in der Rückschau als Chronist einer inzwischen verschwundenen Welt. Seine Geschichten bilden verschiedene Landesteile samt ihrer lokalen Besonderheiten, Berufe und Dialekte zu allen Jahreszeiten ab. Mal im verregneten Sommer, einsam und zweisam am Strand ...:
Landschaft am Meer (September 1967)
... mal im verschneiten Winter ...:
Herr Ben aus der Honyara-Höhle (Juni 1968)
Ein Bezugspunkt bleibt die japanische Thermalbäder- und Badehauskultur. Mal geht der Protagonist in einen jahrhundertealten, von Menschenhand errichteten Onsen ...:
Das Chohachi-Haus (Januar 1968)
... mal in einen von der Natur geformten:
Die Futamata-Schlucht (Februar 1968)
Wie jede Blütenlese erlaubt auch Rote Blüten eine willkürliche Lektüre. Wer sich in der vorgegebenen Reihenfolge durch den Band wühlt, nimmt verschiedene Entwicklungsstufen wahr. Beispielsweise, wie sich Tsuges Strich als Lehrling seines (inzwischen ebenfalls bei Reprodukt publizierten) Kollegen Shigeru Mizuki verfeinert und zu detaillierten Naturansichten wie dieser führt:
Familie Lee (Juni 1967)
Oder wie die Metaphern der in der Realität fußenden Icherzählungen irgendwann die Oberhand gewinnen und in surrealen Seiten Gestalt annehmen:
Verschraubt (Juni 1968)
Wie Der Sumpf bildete auch Verschraubt einen Wendepunkt in Tsuges Karriere. Die Geschichte, die bis heute immer wieder neu aufgelegt wird, war der Auftakt einer ganzen Serie weiterer »Traumgeschichten«, wie Asakawa diese in seinem Nachwort nennt. Für Juli 2020 ist bei Reprodukt Der nutzlose Mann, Tsuges letzte vollendete Serie, in einem abermals 400 Seiten starken Band angekündigt. Es bleibt zu hoffen, dass auch seine Traumgeschichten den Weg nach Deutschland finden. Tsuges Manga sind schlicht zu traumhaft düster und surreal schön, um einer des Japanischen nicht fähigen Leserschaft noch länger vorenthalten zu werden.
[Falk Straub]
Abbildungen © 2019 Reprodukt
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