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Frisch Gelesen Folge 415: Vernon Subutex 1 & 2

 

»Er hatte den Himmel in sich gefunden.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Vernon Subutex

Story: Virginie Despentes
Zeichnungen: Luz

Reprodukt
Softcover | 304 Seiten | Farbe | 39,00 €
ISBN: 978-3-95640-324-8

Reprodukt
Softcover | 368 Seiten | Farbe | 44,00 €
ISBN: 978-3-95640-390-3

Genre: Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Leben, Liebe, Sex, Musik, Comics, Spaß, Widerstand, Ekstase, Glück und Gemeinschaften.



Du bist frei, dein Leben gehört dir, und es ist niemals zu spät, damit zu tun, was auch immer du tun willst. Das ist die zentrale Botschaft von Vernon Subutex, und zu erleben, wie in dieser Graphic Novel ganz unterschiedliche Menschen genau so leben, wie sie leben wollen, ist wunderbar anzusehen. Eingebettet ist das in eine lange, komplexe Erzählung, die zugleich Gesellschaftsroman, Krimi, Entwicklungsroman und Märchen ist. Sie handelt von Musik, Sex, Drogen, Freundschaft, Geld, Macht und Freiheit, aber mehr noch von Angst, Liebe, Sehnsucht, Freude, Mut, Ekstase und anderen Gefühlen, über die wir selten reden, obwohl sie unser ganzes Leben bestimmen. Und erzählt wird sie in Bildern, die nicht einfach die Handlung abbilden, sondern sie kommentieren und verstärken, assoziative Linien durch Zeit und Raum ziehen und die Essenz des Geschehens auf anderen Ebenen weiterführen. Die Comicversion des gefeierten Bestsellers Vernon Subutex ist ein Graphic-Novel-Meisterwerk.


Es beginnt simpel: Der Titelheld, ein ehemaliger Plattenhändler, fliegt aus seiner Wohnung, weil er seine Miete nicht bezahlt hat und in Paris lebt, wo freie Wohnungen für die Vermieter Gold sind. Anfangs hält er die Obdachlosigkeit für eines seiner üblichen Probleme, die er mit Durchschummeln lösen kann, und tatsächlich kommt er einige Zeit bei Freunden unter. Doch schließlich landet er auf der Straße, wo er andere Obdachlose trifft, die ihm helfen, ein neues Leben einzurichten. Dabei ahnt er nicht, dass er mittlerweile eine sehr gesuchte Person ist: Vernon war mit dem toten Popstar Alex Bleach befreundet und besitzt auf einem Stick sowie drei Kassetten dessen Vermächtnis, hinter dem die Privatdetektivin Hyäne her ist. Während zugleich überraschend viele Freunde versuchen, ihn zu finden, um ihm zu helfen.

An dieser Stelle hat sich die überschaubare Geschichte längst in verschiedene Stränge mit diversen Hauptfiguren aufgeteilt, die jede für sich über einige Seiten eingeführt werden – da erinnert die Graphic Novel an eine ambitionierte Streamingserie. Mit der Zeit finden alle erst zusammen und dann auch Vernon, hängen gemeinsam ab und beginnen schließlich, Partys zu feiern, auf denen sich der ehemalige Plattenhändler als begnadeter DJ erweist. Als er die letzten Tracks von Alex Bleach auflegt, werden die Menschen in eine drogenfreie Ekstase versetzt, und so entwickelt sich langsam eine Art anarchistischer Kult und mit ihm eine Zeit des Glücks. Aber natürlich endet alles in einer Katastrophe.


Die Handlung der Graphic Novel, die in zwei fetten Bänden erschienen ist, folgt dem Roman, der in drei Büchern veröffentlicht wurde, doch im Detail entfernen sich die Versionen mit der Zeit mehr und mehr voneinander – die Graphic Novel hat sogar ein neues Ende. Auf dem Rücken des gerade erschienenen zweiten Buches wird die Autorin Virginie Despentes zitiert: »Für den zweiten Teil haben wir meine Geschichte fast vollständig überarbeitet. Es macht wahnsinnig viel Spaß, einen veröffentlichten Text weiterzuentwickeln …« Das klingt, als hätte die Französin dafür sorgen wollen, dass auch die Fans des 2018 erschienenen Bestsellers Interesse am Comic haben. Aber mal abgesehen davon, dass sie mit umstrittenen Werken wie dem indizierten Baise-moi nachdrücklich gezeigt hat, dass sie eine Überzeugungstäterin ist, gibt es dafür ohnehin einen viel besseren Grund: Luz.

Der französische Comiczeichner, der als Überlebender des Terroranschlags auf Charlie Hebdo traurige Berühmtheit erlangte und bis heute unter Polizeischutz steht, verleiht der Erzählung mit seinen Bildern eine völlig neue Dimension. Sein enormes Repertoire an Ausdrucksmitteln ist überwältigend: Erhabene Einseiter folgen wimmeligen Doppelseiten, Erzählseiten mit klarer Panelfolge stehen neben Seiten, auf denen alles zu verschmelzen scheint, elegante Kamerafahrten und grandiose Panoramen setzen deutliche Akzente, und wunderschöne schwarze Seiten, die die Auflösung auf der Tanzfläche oder beim Sex spüren lassen, bilden spektakuläre visuelle Höhepunkte. Diese Graphic Novel hat rund 650 Seiten – und keine ist langweilig.


Luz und Virginie Despentes sind in vielerlei Hinsicht ein perfektes Team, aber nirgends ist das offensichtlicher als bei der Musik. Despentes war selber Punk und stellt in ihrem Roman die Kraft der Musik in den Mittelpunkt. Und Luz ist ein begeisterter Rockfan, hat in Frankreich auch Comics über Musik veröffentlicht und liebt die damit verbundene visuelle Welt, die Poster der Stars und die vielen ikonischen Plattencover. Am Schluss schenkt er in einer rührenden Sequenz sogar jeder Figur ein eigenes Plattencover. Und Vernon Subutex einen Plattenladen: In der Mitte der Geschichte wird Virgin geschlossen, der Megastore an den Champs-Ély­sées, der ein Pilgerort für Musikfreaks war – die große Zeit der Musik scheint vorbei. Doch später findet Vernon im Vinylboom einen neuen kleinen Laden: Virginie Records. Er kann es kaum glauben und versinkt noch einmal in der Welt, die er so gut kennt.


Das Duo passt noch auf eine weitere Art gut zusammen: Beide haben Trauma durchlebt. Die Autorin wurde mit 17 vergewaltigt, der Zeichner ist Überlebender eines Massakers und wird bis heute von Islamisten bedroht. Doch beide haben das Grauen überwunden. Das ist die Basis des gesamten Werkes: Weitermachen. Nichts ist von sich aus gut, alles ist schwer – aber wir geben nicht auf und werden es schaffen. Das Elend wird nicht ignoriert, sondern durchschritten wie ein Sumpf, der nicht zu umgehen ist. Und am Ende sind alle stärker und haben etwas gelernt. Zum Beispiel Einfühlungsvermögen.

Eine sehr eindrucksvolle Passage ist mehr als 20 Seiten lang: Nachdem eine vergewaltigte Frau befreit wurde, bemühen sich ihre Freunde, ihr zu helfen, doch eigentlich weiß niemand so richtig wie. Das könnte eine schlimme Szene sein, unangenehm, hässlich, brutal, doch stattdessen lässt sie vor allem die Zerbrechlichkeit des Opfers spüren, aber auch die aller anderen Beteiligten, die empathisch sind und gar nicht anders können, als ein Teil des Leids mitzutragen. Wir sind Menschen und leben, dann werden wir verletzt, manchmal furchtbar, und danach müssen wir weiterleben. Das geht nur zusammen.

 [Peter Lau]

 

Abbildungen © 2022, 2024 Reprodukt / Virginie Despentes, Luz


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