Frisch Gelesen Folge 108: Lincoln 1 & 2

»Übrigens, ich heiße Lincoln. Nicht mein richtiger Name, den kenne ich nicht. Lincoln gefällt mir, denn wenn der redete waren alle anderen still. Sie mussten ihn sogar niederschießen, um ihn zum Schweigen zu bringen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Lincoln Band 1: »Auf Teufel komm raus«

Story: Olivier Jouvray
Zeichnungen:
Jérôme Jouvray
Farben:
Anne-Claire Jouvray

Schreiber & Leser
HC | 48 Seiten | Farbe | 14,95 €
ISBN: 9-783946-337 682

 

Lincoln Band 2: »Der in den Wind spricht«

Story: Olivier Jouvray
Zeichnungen: Jérôme Jouvray
Farben: Anne-Claire Jouvray

Schreiber & Leser
HC | 48 Seiten | Farbe | 14,95 €
ISBN: 9-783946-337 690

Genre: Western, Komödie

Für alle, die das mögen: Western und Westernparodien


 

Lincoln, Nihilist und nicht Masochist, lebt nach eigenen Regeln, die ihm schon in die Wiege gelegt wurden. Die Mutter war eine Trinkerin und faul, der Vater beschränkte seine Mitwirkung auf einen Samenerguss gegen eine Handvoll Dollar, und so war es kein Wunder, dass Lincoln schon frühzeitig aufgefordert wurde, sich ohne großes Gepäck den Wind der großen weiten Welt um die Nase wehen zu lassen und möglichst viele Leute herein- und Frauen flachzulegen.


Vor der Läuterung: der ambivalente Titelheld Lincoln auf Raubzug.

Der vorgeschriebene Weg eines Kleinkriminellen ändert sich – nicht wirklich abrupt, wie zu erwarten wäre – als Lincoln Gott trifft. Gott erkennt sehr schnell, dass Lincoln nicht bereit ist, an das Gute und eine glückliche Zukunft zu glauben und sieht keine andere Möglichkeit, als ihm die Unsterblichkeit zu schenken. So beginnt eine schleichende Metamorphose vom frechen Dieb und Betrüger, der aufgrund seiner Unsterblichkeit immer dreister wird, zum Hasardeur, der wegen eben dieser Unsterblichkeit sein Leben für eine gute Sache einsetzt.
Lincoln, der einen steckbrieflich Gesuchten kurzerhand »fälscht«, um die Belohnung zu kassieren, nutzt seine neu gewonnenen Kräfte erfolgreich, als der echte Bandit auftaucht und Geiseln nimmt. Zum ersten Mal im Leben bekommt er Anerkennung, mit der er aber gar nichts anzufangen weiß.


Mit dem Allmächtigen beim Dynamitfischen.

Die Verwandlung von Lincoln geht so weit, dass er sich in Band 2 mit Gottes Unterstützung für einen Indianer einsetzt, der sich von der Regierung betrogen fühlt und seinerseits auf einem Rachefeldzug ist. Leider wird ihm schmerzhaft bewusst, dass jede Hilfe für den Indianer zu spät kommt. Aber Lincoln wäre nicht er selbst in der Verneinung alles Positiven, wenn er sich für seine nächsten Schritte völlig auf die Hilfe Gottes verlassen würde. Für den Teufel, der ihm ebenfalls seine Hilfe anbietet, ist Lincoln ein leichtes Opfer. Unklar bleibt, wer hier wen ausnutzt. Gott und der Teufel betreiben ihr Spiel, Lincoln nutzt beide Seiten für seine eigenen Pläne. So wird aus dem Loser mit göttlicher und teuflischer Unterstützung schrittweise ein Rächer für diejenigen, in denen er sich selbst erkennt.

 
Begegnung mit dem Teufel.

Lincolns Gratwanderung zwischen Himmel und Hölle könnte tragisch sein, ist es aber überhaupt nicht. Die Jouvrays haben aus einem Gleichnis eine unterhaltsame und komische Bildergeschichte gemacht, die nicht belehrend sein will, sondern einfach nur kurzweilig. Wenn es einmal zu tiefgründig werden könnte, unterbrechen sie mit einfachen Mitteln die sich anschleichende Nachdenklichkeit durch Gags. Als Gott mit einem Ford Modell T, einem Auto statt eines Pferds daherkommt und zusätzlich einen Fotoapparat anschleppt, um die Läuterung Lincolns als Spur in der Geschichte des Landes zu hinterlassen, ist das schon mehr als komisch. Auch das obligatorische Sonnenuntergangspanel am Ende der Geschichten – hier ein wenig variiert und mit einer frechen Frage versehen (»Wohin soll das noch führen?«) – und die Suche nach einer Oase mit einem Saloon und ein paar Mädels macht einfach nur Spaß.


Auto statt Pferd: im Ford mit Gott und dem Indianer.

Anspielungen wie diese sind eine Steilvorlage, um den Vergleich mit Lucky Luke, dem »lonesome cowboy«, dem Vorzeigecowboy der Comics zu ziehen. Hier der blitzsaubere Verfechter der Gerechtigkeit auf seinem Pferd Jolly Jumper, auf der anderen Seite Lincoln, im Auto mit Gott an seiner Seite. Mehr Kontrast kann eigentlich nicht sein, mehr Individualität und Existenzberechtigung auch nicht. Auch beim Vergleich des Zeichenstils kommt der angesprochene Unterschied mehr als deutlich zum Ausdruck. Den klaren, teils infantilen Zeichnungen der Lucky-Luke-Geschichten steht eine stark abstrahierte Gestaltung gegenüber, dieinklusive der Farbgebung sehr stark an Lewis Trondheim erinnert.

Neuinterpretationen bekannter Klassiker sind mittlerweile en vogue. Beste Beispiele sind der Spirou von Flix, die wunderschönen Comicalben aus dem Walt-Disney-Universum oder die Lucky-Luke-Hommage-Bände, demnächst vom deutschen Zeichner Mawil. Lincoln ist mehr als eine Neuinterpretation, mehr als eine Hommage. Lincoln ist Lincoln, der Mann zwischen Gott und Teufel.7


Ein (actionreiches) Foto: Gott und seine neuen Technologien im Wilden Westen.

Interessant ist, dass gleich drei Personen mit dem Nachnamen Jouvray diesen Comic verantworten, der schon seit 2002 in Frankreich erscheint. Olivier, der mit seinem Bruder Jérôme das Atelier KCS1 gründete und heute selbst Comickurse an der renommierten Kunstuniversität Émile Cohl in Lyon leitet, als Szenarist, sein Bruder Jérôme als Zeichner und Jérômes Frau Anne-Claire als Koloristin. Eine echte Familienproduktion. Mittlerweile gibt es schon neun Bände der Serie in Frankreich, sodass man sich auf eine zügige Fortsetzung freuen darf.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2019 Schreiber & Leser


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