Frisch Gelesen Folge 276: Adele Blanc-Sec 1

»Geschlüpft!! Unglaublich! Es ist wissenschaftlich unmöglich, aber eine Tatsache.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Adele Blanc-Sec Sammelband 1

Story: Jacques Tardi
Zeichnungen: Jacques Tardi

Schreiber & Leser
Hardcover | 160 Seiten | Farbe | 29,80 €
ISBN: 978-3-96582-078-4

Genre: Krimi, Fantasy, Historie

Für alle, die das mögen: Léo Malet, Nestor Burma … und die anderen Comics von Tardi


 
Unglaublich ist nicht nur der Anfang der Geschichte im ersten Teil des Sammelbandes um »Adele und das Ungeheuer«, bei der ein urtümlicher Pterodaktylus aus einem fossilen Ei im Pariser Museum für Naturgeschichte schlüpft. Abgesehen von der künstlerischen Freiheit, die aus einem über 100 Millionen Jahre alten, eher größeren Vogel ein rotes Ungeheuer macht, das Autos und Menschen angreift, bildet diese Wiedergeburt eines Sauriers den Auftakt zu einer Fortsetzungsgeschichte, deren Erfolg und Langlebigkeit unglaublich sind. Ungewöhnlich ist zudem, dass sich Adeles ungewöhnliche Abenteuer (so der deutsche Titel von Jacques Tardis hierzulande zunächst ab 1982 beim Carlsen Verlag publiziertem Comic) auch, aber eben nicht ausschließlich um die Titelheldin drehen.

Adele, eine junge und selbstbewusste Frau mit trockenem Humor, hatte einen raffinierten Plan entwickelt, um den Kleinkriminellen Lucien Ripol vor der Hinrichtung durch das Schafott zu bewahren und so letztlich einen Anteil aus der Beute eines Diebstahls zu bekommen. Eine zentrale Rolle in diesem Plan spielte ein Fluggerät, das in Farbe und Aussehen sehr stark an einen Saurier erinnern konnte. Mit diesem Fluggerät, den Verfolgern von Ripol, dem unnatürlich wiedererwachten Pterodaktylus und einer Unzahl irrwitziger Personen, die sowohl hinter dem einen als auch dem anderen aus unterschiedlichsten Beweggründen her waren, entwickelt sich eine leicht skurrile und chaotische Geschichte, die für unsere Protagonistin nicht wirklich erfolgreich endete. Mit der letztlich entgangenen Beute verschwand aber auch ein geheimnisvoller Gegenstand: eine kleine assyrische Skulptur, die den Dämon Pazuzu darstellt. Um diese Skulptur und den einhergehenden Kult dreht sich dann auch gleich Adeles zweites Abenteuer, das dem ersten Teil in nichts nachsteht.

Ungewöhnlich sind aber nicht nur die Geschichten. Vor Jahren aus meiner Sicht unglaublich, aber aktuell wohl voll im Trend liegend ist auch, dass Adele vierzig Jahre nach der ersten deutschen Veröffentlichung im Carlsen Verlag jetzt bei Schreiber & Leser die gebührende Renaissance erfährt– und das in einer ansprechenden bibliophilen Gesamtausgabe, natürlich als Hardcover mit Lesebändchen. Auch dieses Lesebändchen hat – wie sich im Laufe der Lektüre schnell feststellen lässt – eine nicht unerhebliche Berechtigung, denn wohl kaum jemand wird die Lektüre verfolgen können, ohne zurückzublättern, ohne sich die Übersicht der handelnden Personen ein ums andere Mal ins Gedächtnis rufen zu müssen.

Das kann an der komplexen (hört sich etwas besser an als chaotisch) Handlung liegen, das kann aber auch manches Mal in der vergleichbaren Physiognomie handelnder Personen begründet sein. Adeles Diener – Albert und Joseph –, Polizeihauptkommissar Dugommier und Antoine Zborowski, der Assistent von Professor Menard im Naturkundemuseum, ähneln einander äußerlich und tragen so zur möglichen Verwirrung bei, und ehrlicherweise befinden wir uns gerade erst in den ersten drei Teilen einer Geschichte, die durchaus noch vielschichtiger wird und in den folgenden sieben Teilen zusätzliche Schauplätze, Personen und Ereignisse einführen wird, die die Geschichte manches Mal unübersichtlich erscheinen lassen.

Das kann natürlich daran liegen, dass Tardi Adeles ungewöhnliche Abenteuer ursprünglich auf vier Bände angelegt hatte, dann aber über einen literarischen Kunstgriff nicht nur das Leben der Hauptfigur verlängerte, sondern zusätzliche Handlungsstränge einführte, die die Geschichte weit über den ersten Weltkrieg hinausführte (wir beginnen aktuell 1911).

Etwas weiter oben hatte ich angedeutet, dass es sich hier auch um Adeles ungewöhnliche Abenteuer handelt. Adele ist – Tardi und alle Fans der etwas undurchsichtigen und verträumten Schriftstellerin mögen mir verzeihen – eher eine Klammer um die verschiedensten Erzählstränge. Auch wenn das in den ersten drei Teilen schon ein wenig anklingt, wird das erst zu einem späteren Zeitpunkt wirklich klar. In den ersten Folgen ist sie mal mehr, mal weniger die Hauptakteurin, bevor sie im vierten Band stirbt. Danach wird es mehr als offensichtlich, dass Tardi noch eine weitere Agenda mit der Serie verfolgte, die weit über die »aktuellen« Geschehnisse vor dem Ersten Weltkrieg hinausgeht und eng mit der zweiten Hauptfigur Lucien Brindavoine verknüpft ist. Aber das wird dann wohl eher Bestandteil der Rezension des zweiten Sammelbandes sein.

Inhaltlich bietet Tardi in den ersten drei Teilen von Adele wirklich alles auf – vom auferstandenen Dinosaurier über eine Kopie von Mary Shelleys Frankenstein in Form eines monströsen Affen bis hin zur Verschwörung in höchst amtlichen Bereichen. Und auch Sherlock Holmes und nicht zuletzt Tim und Struppis Schulze und Schultze – hier in Form von Adeles Dienern Albert und Joseph – bekommen ihre Auftritte.

Tardis Zeichenstil liegt nahe an der Ligne claire und ist geprägt von der frankobelgischen Tradition. Natürlich hat er sich im Gegensatz zu zum Beispiel Der Dämon im Eis weiterentwickelt. Aber seine Figuren sind immer noch ein wenig linkisch und überzeichnet und neigen bei allem Detailreichtum dazu, statt überzeichnete Helden darzustellen, eher ins Komische und Lächerliche gezogen zu werden.

Zusammenfassend kann man eigentlich nur sagen, dass diese Edition längst überfällig war und jedem, der nicht die Gelegenheit hatte, die deutschen Erstveröffentlichungen bei Carlsen (Band 1 bis 5, 1982-1985) und der Edition Moderne (Band 6 bis 10 und Neuauflagen der ersten Bände, 1989-2008) zu lesen, ans Herz gelegt werden kann. Ein Rätsel bleibt – zumindest für mich – warum parallel zur Gesamtausgabe von Adele bei Schreiber & Leser Tardis Interpretation von Léo Malets Nestor Burma bei der Edition Moderne erscheint und Nestor Burma von Moynot, Barral und Raval, die sich alle an dem Stil von Tardi orientieren, wiederum bei Schreiber & Leser.

1982 gab es natürlich auch noch keine Vorworte, keine Backgrounds, und darum ist diese Edition auch für diejenigen empfehlenswert, die bisher schon Gelegenheit hatten, das Werk von Tardi näher kennenzulernen.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2021 Schreiber & Leser / Jacques Tardi


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