»Zur Hölle, wir müssen hier weg.«
FRISCH GELESEN: Archiv
November Band 2: »Die Stimme am Telefon«
Story: Matt Fraction
Zeichnungen: Elsa Charretier
Schreiber & Leser
Hardcover | 152 Seiten | Farbe | 29,80 €
ISBN: 978-3-96582-135-4
Ebenfalls erhältlich:
November Band 1: »Die Frau auf dem Dach«
Schreiber & Leser
Hardcover | 152 Seiten | Farbe | 29,80 €
ISBN: 978-3-96582-109-5
Genre: Krimi
Für alle, die das mögen: Criminal (Ed Brubaker), Stray Bullets (David Lapham), Gotham Central (Greg Rucka)
Den ersten Band dieses Zweiteilers (der in den USA in vier Bänden erschienen ist) las ich Anfang des Jahres und schon vom ersten Kapitel war ich begeistert. Da sitzen eine leicht beschädigte Lady ohne Geld und ein dicker Mann in einem Diner und unterhalten sich über einen Job, der so einträglich und so simpel ist, dass die zwischen schwierigen Drogen und schwierigen Beziehungen pendelnde Frau es kaum glauben kann. Es ist ein kleiner, dichter Dialog wie aus Quentin Tarantinos Frühwerken, der zudem von Assoziationen der Protagonisten durchzogen ist, Einzelbildern, die sich im weiteren Verlauf zu einem quasi mentalen Stroboskopeffekt verdichten. Comics sind dafür perfekt, weil die Lesenden ihr Tempo selber wählen können und deshalb niemand von vielen Anspielungen überfordert sein muss, im Gegenteil: Du bekommst eine Geschichte erzählt und kannst dir ganz in Ruhe parallel eine zweite zusammenbauen, die mit der ersten verbunden ist.
Vielversprechender Auftakt: eine Szene aus Band 1
Das sah nach einem vielversprechenden Buch aus, das zu Matt Fraction passt, der sich von einem guten Autor der US-Comicindustrie (X-Men, Iron Man, Thor) zu einem interessanten, originellen Künstler entwickelt hat, der unfassbar lustig sein kann (Jimmy Olsen), provokativ (Sex Criminals) und nachhaltig originell (Hawkeye, worauf die Marvel-TV-Serie beruht). Vor ein paar Wochen kam dann der zweite Band, und er war so enttäuschend, so doof, dass ich es immer noch nicht glauben kann. Er besteht weitgehend aus Schießereien und anderen Formen der Gewalt, verbindet alle offenen Stränge auf niedrigstem Niveau und endet mit etwas, das vermutlich versöhnlich sein soll, aber bei mir nur ein »Hä?« hinterlassen hat. Und ich habe mich gefragt: Warum?
Die anfangs so vielversprechend wirkende Geschichte ist am Ende schnell erzählt. Eine Gruppe von Polizisten hat über längere Zeit einen Handel mit aus dem Archiv gestohlenen Beweisstücken aufgezogen und bekommt Probleme, als ihnen drei Frauen begegnen: eine Telefonistin bei der Polizei, die früher selbst zu den korrupten Beamten gehörte und nun die Bande auffliegen lassen will, die schon erwähnte verkrachte Drogennutzerin sowie eine ganz normale Passantin, die auf der Straße einen Revolver findet, daraufhin die Polizei ruft und dann von den Polizisten entführt wird – warum, bleibt unklar. Anfangs ist das alles flott erzählt, aber im weiteren Verlauf wird das Tempo zunehmend schleppender, bis sich der Endkampf mit viel Geballer und wenig Sinn nahezu komatös hinzieht.
Zum Teil liegt das auch an den Zeichnungen. Elsa Charretiers Bilder erinnern vage an Darwyn Cooke, genau wie ihre Layouts, die von einem sehr beklemmenden 12er-Grid bis zu sehr dekorativen Horizontal-Trios reichen. Das ist handwerklich ordentlich und gut anzusehen, aber nicht sonderlich dynamisch – für Action also eher ungeeignet. Abgesehen davon wirkt es insbesondere im ersten Teil so, als hätte sie nicht wirklich gewusst, was sie eigentlich zeichnet, was durchaus zu dem Buch passen würde – der Autor scheint es lange auch nicht gewusst zu haben.
In Band 2 stattdessen ...
Ich habe keine Ahnung, was mit November passiert ist. Es sieht aus, als hätte es zu Anfang eine echte Idee dafür gegeben, die im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Vielleicht war auch nur die Erzählstruktur zu komplex angesetzt und erwies sich dann als nicht machbar. So jedenfalls ist es ein Buch, das wahnsinnig viel verspricht und am Ende nichts hält – wäre es eine Liebesnacht, würdest du dich morgens darüber ärgern, dass du am Abend zuvor überhaupt rausgegangen bist.
Damit passt November leider furchtbar gut in den US-Mainstream, wo am Ende fast alles viel schlechter ist, als es zu Anfang aussieht. Vor zwei Jahren hatte ich nach mehreren sehr frustrierenden US-Filmen im Kino beschlossen, den Rest des Jahres keine amerikanischen Filme oder Serien mehr zu sehen, was eine fantastische Entscheidung war, nicht nur, weil ich danach so viele interessante Filme und Serien aus so vielen anderen Ländern gesehen habe, sondern auch, weil ich nie wieder das US-Kino als normal empfunden habe, alltäglich. Im Gegenteil, es ist eine sehr spezielle Art, Filme zu drehen und Geschichten zu erzählen, und ich habe das Gefühl, dass das zunehmend auch für Comics gilt. Vielleicht sollte ich den Rest des Jahres keine US-Comics lesen.
... viel Geballer und wenig Sinn
[Peter Lau]
Abbildungen © 2023 Schreiber & Leser / Elsa Charretier, Matt Fraction
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