»Eigentlich versuche ich nur, ich selbst zu sein.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Dragman
Story: Steven Appleby
Zeichnungen: Steven Appleby
Schaltzeit Verlag
Hardcover | 336 Seiten | s/w | 29,00 €
ISBN: 978-3-946972-49-5
Genre: Transgender, Superhelden, Thriller
Für alle, die das mögen: Nenn mich Kai, gute Gespräche, Superhelden-Parodien
Eins schon mal vorweg: Über den Comic Dragman gäbe es sehr viel zu erzählen, zu schreiben und noch mehr zu diskutieren. Viel zu viel, um das alles in einer schnöden Rezension unterzubringen. Unterm Strich ist aber eines glasklar: Dragman ist der Hammer!
Schon lange nicht mehr hat mich ein Comic so überrascht und begeistert wie Steven Applebys enthemmter Erzählreigen, der mit Genres spielt wie echte Kunstschaffende, die innovativ mit Konventionen brechen. Doch der Reihe nach …
Steven Applebys erste echte Graphic Novel ist ein enthemmter Erzählreigen ...
Dragman wurde erschaffen vom britischen Cartoonisten und Comiczeichner Steven Appleby (Foto), der eines gemeinsam hat mit seiner Hauptfigur: Er ist ein Crossdresser. Der 1956 geborene Appleby lebt seit 2007 offen als Transfrau, nimmt jedoch nicht komplett eine andere Identität an. Er benutzt weiterhin das männliche Pronomen, ist immer noch mit einer Frau verheiratet, hat zwei Söhne und drei Stiefsöhne. Nur, dass er sich eben seit bald 14 Jahren weiblich kleidet und vom Optischen aussieht wie eine Frau, komplett mit Make-up und langen Haaren.
Der in England ziemlich bekannte Appleby hatte auch in Deutschland schon mal für Aufsehen gesorgt. 1994 gewann er den renommierten Max-und-Moritz-Preis in der Kategorie »Bester internationaler Comic-Strip oder beste Cartoon-Serie« für den im Verlag Achterbahn erschienenen Band Die Memoiren von Captain J. Star.
Dragman ist seine erste echte Graphic Novel. Das mehr als 300 Seiten starke Werk kommt eher unscheinbar daher. Nicht wie ein Comic, den man in die Hand nimmt und von den Zeichnungen her entzückt durchblättert. Das Covermotiv ist kein Hingucker, wirkt gekritzelt, wie auch manche seiner Panels.
Doch das gilt nur für den ersten Blick. Auf den zweiten und dritten Blick, wenn man sich nach den ersten Seiten an den etwas krakeligen Zeichenstil gewöhnt hat, wirkt alles irgendwie in sich stimmig und überzeugend. Und die Zeichnungen sind in Bezug auf Körperhaltung oder Ausdrucksweise der Protagonisten voll auf den Punkt.
... der mit Genres spielt und zeichnerisch eher unscheinbar daherkommt.
Appleby erzählt die Geschichte von August Crimp, der als Teenager im Wohnzimmer zwischen den Sofakissen einen Seidenstrumpf fand und dabei eine völlig andere Seite an sich entdeckte. Ihm war langweilig, er zog den Frauenstrumpf an und konnte plötzlich fliegen. Vom Fliegen abgesehen, eine ziemlich heikle Situation für einen Sechzehnjährigen, denn als seine Mutter ihn als kleinen Jungen einmal gefragt hatte, was er werden wollte, wenn er denn groß sei und sie eine Antwort erwartet hatte wie »Lokführer« oder »Polizist«, war sie ganz perplex, als er ihr antwortete: »Ich will ein Mädchen werden Mami! Wie du.« Als Folge davon schleppte sie ihn zum Kinderpsychiater …
Doch der Inhalt hat es in sich: Hier entdeckt der Protagonist eine andere Seite an sich.
Eines Tages rettete er ein Mädchen, das vom achten Stock eines Hochhauses fiel. Er flog in Frauenkleidern herbei und fing es auf, bevor es ums Leben kam.
Der Clou ist jedoch, dass er in seinen Frauenklamotten hoch in die Lüfte fliegen kann und so als Erwachsener zum Trans-Superhelden avanciert, obwohl er in Männerkleidung ein ganz normaler Ehemann und liebevoller Vater ist.
Das ist jedoch nur die Kurzfassung der Origin Story, denn die darauf aufbauende eigentliche Story der Graphic Novel ist ein echtes Juwel. Appleby schildert nicht nur die Probleme, die auftauchen, wenn man sich nicht »normal« kleidet, wie z.B. die Reaktionen seiner Frau, als sie seiner heimlichen Neigung auf die Schliche kommt und ihn zur Rede stellt, sondern Appleby gelingt eine tiefgründige Sozialkritik, basierend auf Versatzstücken des Superheldengenres, die sowohl stark bewegend als auch ziemlich amüsant ist.
Dragman steckt voller einzigartiger Episoden wie z.B. sein erster Auftritt beim »Club der Superhelden«, bei dem einerseits das Genre auf den Arm genommen wird, andererseits auch philosophische Untertöne anklingen.
Letztlich ist Dragman aber keine typische Superheldenparodie, wie wir sie schon zuhauf gesehen haben, sondern eine Art moderner Thriller, denn es gibt einen Serienkiller, dessen Identität es herauszufinden gilt. Die Sichtweise des Killers wird durch kurze Episoden, geschrieben in reiner Prosa, dargestellt. Einfach cooles Lesefutter.
Dragman ist keine typische Superheldenparodie, aber voller einzigartiger Episoden wie dieser.
Es kommt nicht oft vor, dass ich einen Comic im Bekanntenkreis verleihe. Dragman ist so ein seltenes Werk, welches ich seit der Lektüre schon oft empfohlen habe. Alle, die den Comic auf meine Empfehlung hin gelesen haben, fanden ihn ziemlich großartig. Trotz der »unmöglichen« Zeichnungen, wie manche sagten.
Vielleicht ist das etwas frühreif, wenn ich dies zu einem Zeitpunkt schreibe, da das Jahr 2021 gerade mal zur Hälfte vorbei ist, aber für mich zählt Dragman zu den Comics des Jahres. Eine tolle Graphic Novel, die prächtig unterhält und gleichzeitig augenöffnend für mehr Toleranz wirbt und zum Nachdenken anregt.
Deshalb: Bitte lest Dragman. Ihr werdet es nicht bereuen.
[Matthias Hofmann]
Abbildungen © 2021 Schaltzeit Verlag / Steven Appleby
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