»Der Schrecken im Raum ist greifbar.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Story: Bernie Wrightson, Steve Niles
Zeichnungen: Bernie Wrightson, Kelley Jones
Splitter
Hardcover | 104 Seiten | s/w | 25,00 €
ISBN: 978-3-98721-252-9
Genre: Horror
Für alle, die das mögen: Dracula, Freak Show, Mary Shelley, Gothic Novel
Mary Wollstonecraft Shelley war zarte 21. Jahre, als sie ihren Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus veröffentlichte – aus gesellschaftlichen Gründen zunächst anonym. Die Geschichte um Victor Frankenstein, der Leben erschaffen wollte und dabei seiner geliebten Frau, seinem besten Freund und vielen anderen Menschen den Tod brachte, gehört zu den Glanzstücken der Schauerromantik des 19. Jahrhunderts. Der Roman endet in der lebensfeindlichen Arktis: Frankenstein und seine Kreatur finden den Tod. Oder doch nicht? In seinem letzten Werk spinnt Bernie Wrightson die Frankenstein-Saga weiter. Eine »Was-wäre-wenn«-Geschichte, die posthum veröffentlicht wurde.
Als Wrightson 2017 starb, verließ der Großmeister des Comichorrors die Bühne. Der Zeichner hatte sich seit jeher für die Gossen und die Kreaturen, die aus ihnen hervorkriechen, interessiert. Der Bestsellerautor Stephen King, mit dem er zwei Projekte realisierte – Creepshow und Das Jahr des Werwolfs – hielt ihn für einen Großmeister des illustrierten Horrors. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich der Zeichner früh mit dem Frankenstein-Mythos beschäftigte. Mit Frankenstein, Alive, Alive! kommt er mit dem Ende seines Lebens noch einmal zurück.
Dabei stellt Steve Niles, der u.a. die wegweisende Serie 30 Days of Night geschrieben hat, bereits in seiner Vorrede klar, mit welchem Enthusiasmus Wrightson sich an die Arbeit gemacht hat. Erzählt wird die Geschichte der Kreatur, nachdem Victor gestorben ist. Dieser erscheint ihm immer wieder in Visionen und das Monster will sich endlich umbringen. Aber alle Versuche misslingen und er wird von einem Wissenschaftler entdeckt, der nicht das Hässliche in ihm sieht, sondern das Wunder der Forschung – und damit beginnt das Unheil von Neuem. Der Plot ist vielleicht nicht sonderlich einfallsreich. Aber um ihn geht es bei diesem Band auch nicht so sehr. Es geht um das Artwork.
Über die zeichnerischen Qualitäten eines Bernie Wrightson möchte ich an dieser Stelle keine Worte verlieren. Kaum ein Zeichner hat es geschafft, den Horror so gut einzufangen. Der Anfang des Bandes – die Kreatur ist unter Schaustellern und wird auf einem Jahrmarkt vorgeführt – erinnerte mich bisweilen an die Geschichte Freak Show, die der Zeichner mit Bruce Jones realisierte (erschienen 1985 bei Carlsen). Leider hat Wrightson nur die ersten drei Kapitel herstellen können. Am Ende forderte die Krankheit ihren Tribut und für das abschließende vierte Kapitel übernahm Kelley Jones den Zeichenstift. Zu behaupten, man würde keinen Unterschied merken, wäre gelogen. Der Bruch ist da. Aber er erscheint viel geringer, als ich es mir im Vorfeld gedacht hätte. Vielleicht ja auch spannend zu sehen, wie ein anderer Künstler Wrightsons Ideen zu Ende bringt.
Die letzten rund 20 Seiten des Bandes sind Skizzen und Entwürfe. Aus ihnen wird ersichtlich, warum der Texter Niles in seiner Einleitung schreibt: »Bei Frankenstein, Alive, Alive! übernahm allerdings Bernie das Ruder. Es war sein Baby. Wir sprachen es durch, ich schrieb einige Passagen, und dann ging Bernie weg und arbeitete das Ganze aus.« Denn in seinen Entwürfen und Studien hat der Zeichner schon ganz konkrete Ideen zur Geschichte und zu ihrem Fortgang festgehalten. So legen die letzten Seiten nicht nur Zeugnis davon ab, welch schöpferisches Künstlertum in Bernie Wrightson steckte, sondern auch, wie sehr ihn die Geschichte um Victor Frankenstein und seine Kreatur fasziniert hat.
Der Band enthält eine solide Geschichte, die vor allem grandios umgesetzt wurde. Ich gebe acht von zehn Leben.
[Bernd Hinrichs]
Abbildungen © 2024 Splitter / Bernie Wrightson, Steve Niles, Kelley Jones
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