Es sieht nicht nur aus wie ein Mammutwerk, sondern es fühlt sich auch so an. Fast 1000 Illustrationen auf rund 960 Seiten umfasst die voluminöse Abhandlung »1001 COMICS,
die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist«, die in der Edition Olms in diesen Tagen erschienen ist.
Welche Comics man gelesen haben sollte, bevor man das Zeitliche segnet
Neues Standardwerk für Comicfans: 1001 Comics
INTERVIEW MIT ANDREAS C. KNIGGE
Der Brite Paul Gravett, ein weltweit anerkannter Fachmann in Sachen Neunte Kunst, hat mit Hilfe von 68 über den ganzen Erdball verstreuten Rezensenten ein beachtliches Standardwerk zusammengestellt, welches die seiner Meinung nach wichtigsten Comics der Welt vorstellt.
Übersetzt und mit deutschen Einträgen versehen wurde das gewichtige Buch von Andreas C. Knigge. Bereits im Juni 2012 berichtete das Comicfachmagazin ALFONZ – Der Comicreporter in seiner Debütausgabe über das ambitionierte Vorhaben einer deutschsprachigen Fassung. Volker Hamann sprach mit Knigge über das Projekt und seine besonderen Herausforderungen.
Wir veröffentlichen hiermit das Interview für alle, die den Abdruck in ALFONZ Nr. 1 verpasst haben. Eine ausführliche Rezension des just erschienenen Buchs folgt.
ALFONZ fragt. Andreas C. Knigge antwortet.
Andreas, nach deiner voluminösen Wäscher-Biografie aus dem letzten Jahr legst du nun noch einen drauf: Bei der Schweizer Edition Olms erscheint im September der Band 1001 Comics, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist von Paul Gravett mit einem Umfang von 960 Seiten, den du für die deutsche Ausgabe übersetzt und bearbeitet hast! Wow! Das hört sich nach einer Menge Arbeit an …
Jau. Kann man so sagen … [rollt mit den Augen]
Geht’s auch etwas konkreter?
Das Buch ist letzten Oktober in England und den USA erschienen. Anfang November ging’s los, und in Druck gegangen ist’s am 4. Mai, das war also ein komplettes halbes Jahr: Mit Ausnahme der beiden Tage, die ich im März bei der Jurytagung für den Max-und-Moritz-Preis in Erlangen war, tatsächlich nonstop sieben Tage die Woche und nie unter 14 Stunden. Das war schon ein strammer Ritt. Vor allem durch die Adaption für den deutschen Buchmarkt und die umfangreiche Nachrecherche, bei der auch eine Menge Leute von New York bis Tokio und nicht zuletzt Paul in London mächtig geholfen haben.
Wie kam es dazu, dass gerade Edition Olms dieses Buch herausgibt?
Das Buch gehört zu einer Reihe des englischen Verlags Quintessence: Die 1001 Bücher, Platten, Gemälde, Filme etc. etc., die man sich antun sollte, bevor das Leben rum ist. Ich find’s klasse, dass nun ein Comic-Kanon dabei ist. Aber deren Spektrum ist überhaupt erfreulich offen. In der Mache ist grad 1001 Video Games You Must Play Before You Die. Und diese Reihe erscheint, um die Frage zu beantworten, deutsch bei der Edition Olms in Zürich. Sowie weltweit in einem guten Dutzend weiterer Länder und Sprachen, von der Slowakei über Frankreich und Spanien bis Kanada.
Wenn du Kanon sagst – wie kam der zustande?
Paul Gravett als Herausgeber hat fast siebzig Comic-Kenner um sich geschart, überwiegend Amerikaner und Engländer, aber natürlich auch Franzosen, Holländer, Japaner und Leute aus Ländern wie Südafrika, Polen, Indien, Korea oder Australien. Zu dieser Zeit war ich aber noch nicht dabei, da ich noch an dem Wäscher-Buch saß.
Und wie ist der so entstandene Kanon deiner Meinung nach ausgefallen?
Meiner Meinung nach prima. Es sind alle wichtigen Klassiker seit Busch und Töpffer dabei, und die Auswahl reicht aktuell bis Ende 2011. Neben dem Obligaten gibt es aber auch viel Vergessenes oder illustre Exoten, die auch ich teilweise vorher gar nicht kannte. Das Buch ist also sowohl Enzyklopädie, »Best of« und Entdeckungsreise in einem. Spannend finde ich dabei das Gewicht, das die letzten dreißig Jahre haben. Die füllen die ganze zweite Hälfte. Da spiegelt sich die enorme Diversifizierung, die der Comic durch Mangas, Autobiographien oder Graphic Novels erfahren hat, und endet mit Habibi und Packeis von Simon Schwartz. Und die chronologische Organisation, durch die sich Zusammenhänge oder Parallelentwicklungen ganz neu erschließen.
Welche originären Comics aus dem deutschsprachigen Raum waren bereits in der Originalausgabe enthalten, und für welche hast du dich stark gemacht?
Das war gut ein Dutzend von Busch über Vater und Sohn, Fix und Foxi und Schultheiss bis zu Ulli Lust. Stark machen musste ich mich für nichts, denn wie die deutsche Ausgabe letztlich aussieht, oblag allein meiner Entscheidung. Die habe ich mit Paul Gravett und Manfred Olms abgestimmt, beide waren d‘accord. Ausgetauscht habe ich unterm Strich wohl über hundert Titel. Also rund zehn Prozent der Texte sind eigens für die deutsche Ausgabe neu geschrieben. Das betrifft nicht allein deutsche Zeichner, auch in anderen Bereichen ist einiges ausgetauscht, da das Buch hier auf ganz andere Lesebiografien trifft als in England.
Das heißt, für jeden neu aufgenommenen Titel musste aus der Originalausgabe einer entfallen?
Genau, 1001 bedeutet 1001. Das ging auf Kosten von Themen, die für uns weniger eine Rolle spielen, viele davon britische Titel, die in einer englischen Ausgabe nicht fehlen dürfen, für eine deutsche aber weniger zwingend sind. Dafür habe ich dann lieber Helmut Nickel und Hansrudi Wäscher aufgenommen, Tomas Bunk, Bernd Pfarr, Seyfried, Walter Moers, Strizz oder Line Hoven.
Die Originalausgabe erschien 2011 und hat für eine Menge Diskussionsstoff gesorgt. Paul Gravett hat daraufhin auf seiner Internetseite (www.paulgravett.com) einen Blog eingerichtet, auf dem Ergänzungen und Kommentare erscheinen können. Ist für die deutsche Ausgabe etwas Ähnliches geplant?
Ich habe das jedenfalls nicht vor, für mich ist das Buch jetzt durch. Zumindest bis – was bei dieser Reihe üblich ist – eines Tages eine aktualisierte Neuausgabe erscheint. Bei Paul melden sich vor allem auch Leute, die Fehler entdeckt haben, die bei einem so gigantischen Projekt nun mal anfallen. Das wird bei der deutschen Ausgabe weniger nötig sein, da ich im Zuge der Nachrecherche natürlich korrigiert habe, was zu korrigieren ging.
Was bedeutet es für dich, sich auf 1001 Comics »beschränken« zu müssen? [grinst]
Tausend Themen empfinde ich überhaupt nicht als Beschränkung. Die Situation hatte ich mit meinen 50 Comic-Klassikern bei Gerstenberg, aber nicht hier. Die Auswahl ist enorm weit gespannt, von den ersten Zeitungsstrips und deren unmittelbaren Vorläufern bis hin zu Webcomics und allem dazwischen, von Marvel bis Métal Hurlant. Natürlich wird es nachher immer einen geben, der irgendwas aus dem Hut zieht, das seiner Meinung nach unbedingt auch noch hätte drin sein müssen, aber das gehört bei Büchern dieser Art halt zum Spiel. Weit entscheidender finde ich, was das Buch an Entdeckungen bietet, ganz aktuell zum Beispiel die ersten Graphic Novels aus Ländern wie Tschechien, Ägypten, Kambodscha oder Indien. Damit wird einem lange nicht langweilig …
Die Fragen stellte Volker Hamann.
Erstveröffentlichung dieses Interviews im Comicfachmagazin ALFONZ Nr. 1/2012 (Juni 2012)
Abbildungen © Edition Olms
Weiterführender Link:
Homepage des Verlags: 1001 Comics mit Leseprobe