Frisch Gelesen Folge 127: Der gebrochene Flügel

»Es gibt viel, was du nicht über mich weißt.«


 FRISCH GELESEN: Archiv


Der gebrochene Flügel

Story: Antonio Altarriba
Zeichnungen: Kim

avant-verlag
Softcover | 264 Seiten | s/w | 25,00 €
ISBN 978-3-96445-002-9

Genre: Biografie, Familiengeschichte, Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Biografien, die gleichzeitig geschichtliche Aufarbeitung betreiben.


 

Die eigene Mutter liegt im hohen Alter im Sterben. Durch die Behandlung der Ärzte erfahren ihr Sohn und mit ihm wir Leserinnen und Leser, dass ihr linker Arm halb gelähmt ist und sie ihn zeit ihres Lebens weder heben noch strecken konnte. Der Einstieg in diese Geschichte erscheint sehr fantastisch, eigentlich nicht vorstellbar für eine Biografie. Doch tatsächlich erging es Antonio Altarriba genau so. Mehr noch, auch sein Vater, der über mehrere Jahrzehnte mit ihr verheiratet war, wusste davon nichts.

 
Trotz ihres Handicaps erweist sich Petra als fleißiges und zuverlässiges Dienstmädchen.

Der gebrochene Flügel handelt von Altarribas Mutter Petra. Zuvor hatte der Autor im mehrfach ausgezeichneten Comic Die Kunst zu fliegen die Lebensgeschichte seines Vaters erzählt, der 1910 in Spanien geboren wurde. Sein Vater war ein Anarchist, der gegen Franco und Hitler gekämpft hat. Später lebte er im französischen Exil, kehrte Anfang der 1950er nach Saragossa zurück und lernte dort Petra kennen. Altarriba skizziert seine Mutter in diesem Comic aber nur als frömmelnde, prüde Ehefrau. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie traurig: Er wusste einfach selbst nicht viel über sie. Seine Mutter hatte es, wie viele Frauen in Francos Spanien, verstanden, sich unsichtbar zu machen und sich durch Schweigen und Herunterspielen durch ihr hartes und entbehrliches Leben zu schlagen.

Altarribas Vater führte ein lautes, aufbrausendes Leben, das er mit einem Paukenschlag, seinem Selbstmord im Alter von 90 Jahren, beendete. Darüber hinaus hielt er es schriftlich fest – das Leben eines Revolutionärs. Altarribas Mutter hingegen war ihr Leben lang Männern untergeordnet. Bis in die 1970er waren spanische Frauen völlig abhängig von Männern. Sie durften weder wählen noch ein eigenes Bankkonto eröffnen. Sie lernten früh, sich anzupassen, unterzuordnen und suchten Zuflucht und Geborgenheit in der Religiosität. Auch hierin unterscheidet sich das Leben von Petra nicht. Erst nach sehr aufwendigen Recherchen stellte Altarriba fest, dass seine Mutter ein nicht weniger politisch brisantes Leben geführt hat wie ihr Ehemann.

Petras Leben beginnt gewaltsam. Ihre Mutter stirbt bei ihrer Geburt und ihr aufbrausender Vater versucht sie zu erschlagen, da er sie für den Tod seiner geliebten Frau verantwortlich macht. Dabei verletzt er ihren Arm, die Behinderung, die sie so geschickt zu tarnen weiß. Trotz allem verehrt und liebt sie ihren Vater. Obwohl er ein Trunkenbold und ein Tyrann ist, pflegt sie ihn bis zu seinem Tod.


Das Heraushalten aus allem Politischen als politische Haltung war eine Strategie, die viele Spanierinnen verfolgt haben.

Danach erhält sie in Saragossa im Haus eines hohen Generals eine Anstellung als Gouvernante, den höchsten Posten, den ein Dienstmädchen erreichen kann. Sie genießt das Vertrauen der Familie, besonders des Generals. Dieser ist Anhänger der Monarchie, der wohl auch geheime Treffen abhält, um die Wiedereinführung der Monarchie und den Sturz Francos voranzutreiben. Er stirbt später unter ungeklärten Umständen, vieles deutet aber darauf hin, dass er als Gegner Francos enttarnt und zum Schweigen gebracht wird. Altarriba lässt ihn in seinem Comic von Francos Heeresminister persönlich hinrichten. Diese Variante gilt unter Historikern als die wahrscheinlichste. Petra dürfte so manchem Treffen und so mancher Besprechung beigewohnt haben, hat aber ihr gesamtes Leben lang Stillschweigen darüber bewahrt. Erst in ihren letzten Jahren kann ihr Sohn ihr einige Einzelheiten abringen. Bemerkenswert, denn bis heute ist wenig über Machtkämpfe innerhalb der Diktatur bekannt.

Petras Loyalität galt stets ihrem Dienstherren und nicht der Regierung. Diese Loyalität zieht sich durch ihr gesamtes Leben: Sie galt ihrem Vater, gleiches gilt später für ihren Mann und natürlich Gott gegenüber. Als sich ihr Mann im hohen Alter von ihr trennt, zerbricht sie auch daran nicht. Obwohl das Verlassenwerden für sie als Katholikin eine schwere Sünde darstellt, erobert sie sich im Altersheim ihr Leben wieder neu. Sie schafft es sogar, wieder Zuneigung und Zärtlichkeit zu erfahren, und gibt ihrem Leben einen Sinn.


Trotz strenger Verbote erobert sich Petra auch im Altersheim einen Raum für Intimitäten.

Für die Umsetzung seiner Familiengeschichte konnte Altarriba den in Spanien sehr renommierten Comiczeichner Kim gewinnen. Kim ist Gründungsmitglied der spanischen Satirezeitschrift El Jueves. Seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind von einem nur auf den ersten Blick schlichtem Stil. Die konstante Darstellung über beide Bände hinweg ist beeindruckend. Menschen, Perspektiven und narrative Blickwinkel sind der Erzählung perfekt angepasst. Gleichzeitig scheint Kims Hintergrund als Satirezeichner durch. Oftmals sind Szenen überspitzt und grafisch humoristisch, sie beleuchten den Menschen mit all seinen Facetten. Das Weglassen von Farben unterstreicht das triste und graue Leben der Spanier dieser Zeitperiode zusätzlich.

Die beiden Bände Altarribas – Die Kunst zu Fliegen wie auch Der gebrochene Flügel – sind als ein Gesamtwerk anzusehen, die aber gerade in ihrer Gegenüberstellung ihren vollen Reiz entwickeln. Ich hatte beim Lesen der Geschichte des Vaters wie wohl viele den Eindruck, dass die Mutter in dieser Biografie nicht deutlich genug skizziert ist und nicht sehr gut wegkommt. Trotzdem ist Der gebrochene Flügel mehr als nur eine Rechtfertigung, nicht bloß eine Befriedung eines schlechten Gewissens. Je tiefer wir in die politischen Vorgänge vorstoßen, die um Petra herum geschehen, desto interessanter wird die Lektüre dieser zweiten Biografie.

Wenn mir bereits Die Kunst zu Fliegen gezeigt hat, dass ich viele Wissenslücken über die jüngste spanische Vergangenheit habe, gelingt dies mit dem Folgeband erst recht. Daneben stellt Altarriba, beinahe schon nebensächlich, exemplarisch am Leben dieser Frau, das Leben der meisten spanischen Frauen dieser Generation dar. Meine Oma ist 1945 aus Oberschlesien geflohen. Von ihr kenne ich dieses Schweigen, die Auslassungen, das Entbehren, die Frömmigkeit und besonders das niemals Stillhalten. Meine Mutter hat es bereits in Teilen geschafft, sich aus diesem Griff zu lösen. Ich fand es erschreckend, festzustellen, dass die Frauen Spaniens bis in die 1970er-Jahre unter diesem Leben, das durch wenig Freude geprägt war, gelitten haben.

Altarriba gelingt mit Der gebrochene Flügel eine emanzipatorische Geschichte einer starken Frauenfigur, die sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Und trotz der im Titel anmutenden Engelsanspielung, glorifiziert er seine Mutter nie, stellt sie immer so nüchtern dar, wie sie sich selbst wohl auch gesehen haben mag. Das Buch ist ein großartiger Beitrag zur spanischen Geschichtsaufarbeitung und gleichzeitig eine sehr persönliche Erzählung.

[Mechthild Wiesner]

Abbildungen © 2019 avant-verlag


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