»Was für ein erstaunlicher alter Mann! Er will alles probieren! Trinken, Rauchen, Schnupfen oder Spritzen. Kaum verblasst die Wirkung einer Droge, schon nimmt er die nächste! Ah, was für ein Mann!«
FRISCH GELESEN: Archiv
Story: Jacques Lob
Zeichnungen: Georges Pichard
avant-verlag
Hardcover | 160 Seiten | s/w | 39,00 €
ISBN: 978-3-96445-123-1
Genre: Graphic Novel
Für alle, die das mögen: griechische Mythologie, Jack Kirbys Fantastic Four, Sex ohne Sex
In meiner Jugend habe ich Georges Pichard geliebt. Nicht für seine Neigung zu historischen Stoffen, nicht für das meist mittelmäßige Storytelling der Geschichten, die er illustrierte, nicht einmal für seine feinen, detaillierten Zeichnungen. Mich interessierten einzig und allein seine Hauptfiguren: junge Frauen mit großen Brüsten, festen Schenkeln und großen Hintern, deren Schicksal es war, früher oder später ihre Kleidung zu verlieren. Nackt starrten sie mich aus ihren großen Kulleraugen an, einen Jugendlichen mit vielen Hormonen und sehr wenig Kontakt zu Mädchen – es war großartig! Worum es in den Geschichten ging, weiß ich heute nicht mehr. Aber an die Brüste erinnere ich mich immer noch.
So ist die deutsche Erstveröffentlichung von Odysseus, den Georges Pichard und Texter Jacques Lob zwischen 1968 und 1974 veröffentlichten, in gewisser Weise eine Heimkehr: Ich erkannte die Brüste sofort wieder. Einige waren zwar manchmal halb verdeckt, aber auf eine erotische Art, die mehr zeigt als verbirgt. Ansonsten waren sie alle gleich: Rund und üppig wie damals ragten sie mir willig entgegen. Wie schade, dass ich nicht mehr pubertär bin.
Odysseus ist eine Adaption des großen griechischen Vers- als Science-Fiction-Epos, was dem übererzählten Stoff einen guten Dreh gibt. Einerseits folgt das Buch dem Klassiker: Der verlorene Seemann und seine Crew treffen den Zyklopen Polyphem, die Zauberin Circe und den Herrn der Winde Aiolos, sie reisen in den Hades und zu guter Letzt verbringt Odysseus Jahre mit Kalypso, die ihm ewige Jugend verspricht. Schließlich kehrt er doch nach Hause zurück, wo er sein Heim von nichtsnutzigen Schmarotzern zurückerobern muss, von denen unklar bleibt, wie sie da hingekommen sind. Aber egal, sind eben blöde Menschen.
Im Gegensatz zu den Göttern: Das sind Außerirdische oder zumindest Mitglieder einer hoch entwickelten Zivilisation, und die mystischen Figuren, die Odysseus auf seinen Reisen trifft, sind ihre Maschinen oder Kreationen. Zeus regiert im Captain-Kirk-Sessel deshalb auch nicht über den Olymp, sondern über eine Art Raumschiff mit einer allerdings ebenfalls leicht dümmlich wirkenden Crew, aus der allein die freundliche Athene etwas heraussticht. Als der rachsüchtige Poseidon nach der Zerstörung seiner Maschine Polyphem Odysseus verflucht, setzt sie sich für den Seefahrer ein und sorgt in schwierigen Situationen immer wieder für Hilfe.
Visuell folgt das alles dem Coolness-Code der späten 60er und frühen 70er, der immer noch gut ansehbar ist. Zeus sieht aus wie Che Guevara, Kalypsos Helfer ist ein Android, die Gebäude erinnern an moderne Architektur, wie sie im Micky Maus Magazin zu sehen war, und während die Männer hoch geschlossene Anzüge tragen, haben die Frauen so gut wie nichts an, was mich an Perry-Rhodan-Comics der Pop-Art-Phase erinnert hat. Sehr deutlich sind auch die Spuren von Jack Kirby: Mehrfach wird in einer Art Fantasticar der Fantastic Four geflogen, das Gefolge von Zeus erinnert an die Inhumans, und Poseidon und seine schuppigen Monster könnten klassische Gegner des Submariners sein.
Außerdem werden, passend zum Zeitgeist, ständig Drogen genommen. Am amüsantesten ist die Episode bei Circe, wo Odysseus unter Drogen ein Jahr verliert, was in angemessen psychedelischen Zeichnungen dargestellt wird. Das ist auch einer der großen Momente Homers, der nie von der Seite Odysseus weicht und am Ende dessen Geschichte auf einen Kassettenrekorder spricht. Er ist immer neugierig, will alles wissen und probiert natürlich auch alle Drogen aus – der griechische Dichter ist mein geheimer, kluger und leichtherziger Held.
Interessant ist die Sicht der Götter auf die Sterblichen: Sie halten sie offensichtlich für etwas primitiv – und das sind sie auch. Odysseus gibt sich große Mühe zu verstehen, was mit ihm passiert, aber am Ende ist er von allem überfordert. Dass er zu Hause einige Gegner wie früher mit Pfeil und Bogen erledigen kann, dürfte eine echte Erleichterung sein. Das zum Thema Hochkultur Griechenland. Doch ein Happy End gibt es nicht: Odysseus muss wieder aufs Meer hinaus, vermutlich weiteren Frauen mit großen Brüsten hinterher, die bei seinem Abschied stets traurig schmachtend am Strand stehen. Die große Männerfantasie: Ohne dich kann ich nicht vögeln.
Sex ist eine der großen Antriebskräfte in diesem Buch, doch Sexuelles wird nicht gezeigt. Stattdessen gibt es die nackten Frauen und leicht bekleidete Männer auf großen Betten. Ich verstehe heute, warum mich das als Jugendlicher ohne jegliche Erfahrung angemacht hat: Es war Sex aus sicherer Entfernung, Sex ohne Sex. Kein klebriges, verschwitztes, heißes, atemloses, unübersichtliches, unabsehbares, manchmal völlig aus dem Ruder laufendes Gerangel, sondern ein Produkt aus dem Quelle-Katalog, gleich hinter den Unterwäsche-Seiten, vor dem niemand Angst haben muss. Total verklemmt. Aber so waren sie eben, die wilden 60er- und 70er-Jahre.
[Peter Lau]
Abbildungen © 2024 avant-verlag / Jacques Lob, Georges Pichard
Den Comic gibt's im gut sortierten Comicfachhandel oder direkt beim Verlag: avant-verlag