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Frisch Gelesen Folge 450: Die große Verdrängung

»Der historische Sieg des Kapitals und die Zerstörung des Planeten sind ein und dasselbe.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Die große Verdrängung

Story: Roberto Grossi
Zeichnungen: Roberto Grossi

avant-verlag
Softcover | 208 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 978-3-96445-146-0

Genre: Sachcomic

Für alle, die das mögen: Milch ohne Honig, Das Recht der Erde, Klimaangst und Wandelmut


 

Die Menschheit bringt sich gerade um. Klimawandel, Artensterben, Mikroplastik, abgeholzte Wälder, Desertifikation, der Great Pacific Garbage Patch und so weiter treffen auf Kriege, wachsende Flüchtlingsströme, Hungersnöte sowie rechtsradikale Populisten, Überreichtum und Überverbrauch in den reichen Ländern, was eher mittel- als langfristig die Grundlagen der menschlichen Existenz zerstören wird. Das wissen im Prinzip alle, wird aber weitgehend ignoriert, insbesondere in der westlichen Welt, wo die Möglichkeiten, den Kurs zu wechseln, erheblich größer wären als im globalen Süden. Das ist die große Verdrängung.

 

Der Italiener Roberto Grossi beginnt seine Graphic Novel zu diesem Thema mit einem sehr treffenden Bild: Ein Mann liegt vor einer Jacht im Wasser, die vor leuchtenden Wohntürmen ankert, vielleicht Shanghai, Dubai, Singapur. Reichtum, Genuss, Schönheit. Es ist alles gut. Bis ein Hai auftaucht. Er wird ihn töten, das ist klar. Eigentlich ist der Hai kein Problem: »Die Leiter der Jacht ist nah.« Doch anstatt sich zu retten, dreht der Mann sich um zu den Lichtern der Stadt: »… er starrt auf die Lichter. Glücklich. Alles, was er sich immer gewünscht hat.«

Grossi hat sich für sein Buch viel vorgenommen: Einerseits will er die aktuelle Lage zeigen, andererseits möchte er seine Leserschaft emotional erreichen. Und beides gelingt ihm sogar. Es geht auf der einen Seite um die Zerstörung der Biosphäre: dem Massenaussterben unter besonderer Berücksichtigung der für den Planeten essenziellen Insekten und dem Rückzug der Gletscher, den abgeholzten Wäldern, der Klimaerwärmung, der Bodenversiegelung und Flutkatastrophen. Im Gegensatz zu den meisten Sachcomics verzichtet Grossi jedoch völlig auf Faktenwüsten, die von dünnen Illus mühselig kaschiert werden. Im Gegenteil: Es ist weit mehr zu sehen, als erzählt wird – die Bildebene ist oft wichtiger als die Textebene. Und weil der Italiener Ökologie und Ökonomie zusammendenkt, kommt er oft auf erhellende oder gar lustige Kombinationen.

Koksen und Skifahren – was Reiche eben für Wintersport halten. Die Ökonomie und vor allem der Überreichtum einer globalen Elite sind das zweite zentrale Thema des Buches: »Die reichsten 1% stoßen insgesamt so viel Treibhausgas aus wie die ärmsten 66 %.« Und: »Wir alle werden gedrängt, wie wahnsinnig zu produzieren und zu konsumieren. Was nur einer winzigen Minderheit zugutekommt.« Grossi sieht die Probleme im Zusammenhang, was sein Buch von der Klimaberichterstattung in den Mainstream-Medien unterscheidet, wo oft so getan wird, als wäre die Umwelt irgendwie getrennt von unserem übrigen Leben. Bei ihm gehört alles zusammen: Kolonialismus und Armut, Luxus und Wassermangel, die Lust am Fleisch und die regelmäßigen Brandrodungen (etwa im Amazonasbecken):

Ein kluges Buch, das denjenigen, die sich viel mit dem Thema beschäftigt haben, nur wenig Neues bietet, aber in seiner hochemotionalen, visuellen Umsetzung erstaunlich viel gut auf den Punkt bringt. Und wer bislang nur vage das Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt, findet hier das perfekte Gegenmittel zu dem News-Dauerfeuer der schlechten Nachrichten, die uns Tag für Tag zu ertränken drohen: Nein, wir haben nicht 1000 Probleme – wir haben eines mit vielen Facetten. Alles, was gerade passiert, gehört zusammen.

Nur bei den Lösungen ist Grossi, freundlich gesagt, ziemlich dünn. Ja, wir müssen uns der Katastrophe bewusst werden – und dann? Das Buch suggeriert die Notwendigkeit politischer Lösungen, nennt aber keine und blendet zudem komplett die persönliche Ebene aus. Der Autor scheint nicht einmal über sich selbst nachzudenken: Wenn er seinen Kindern einen Gletscher aus seiner eigenen Kindheit zeigen will, der bald verschwunden sein wird, nimmt er ein Auto statt die offensichtlich klimafreundliche Bahn. Auch politische Entscheidungen und Perspektiven, die uns voranbringen könnten, sind kein Bild oder Wort wert. Kann es sein, dass sich sogar Roberto Grossi das Ende der Welt besser vorstellen kann als das Ende des Kapitalismus?

[Peter Lau]

Abbildungen © 2025 avant-verlag / Roberto Grossi


Den Comic gibt's im gut sortierten Comicfachhandel oder direkt beim Verlag: avant-verlag