»Aber ich begriff schnell, wenn er dir etwas gibt, erwartet er eine Gegenleistung. Seine Geschenke waren nichts anderes als Ablasshandel.«
(Paul über seinen Nachbarn Tonio)
FRISCH GELESEN: Archiv
Paul zu Hause
Story: Michel Rabagliati
Zeichnungen: Michel Rabagliati
Edition 52
Softcover | 208 Seiten | s/w | 25,00 €
ISBN: 9783948755096
Genre: Gegenwartsliteratur, Halbautobiografie, Graphic Novel
Für Leser, die das mögen: Biografien, Autobiografien, Strannik (Rotopol), Jein (Jaja)
Bevor es mit dem Band losgeht, irritiert das Intro mit einem einseitig verdorrten Baum; so wie das eigentümliche Cover mit einem ins Abendlicht getauchten Haus, dessen Vorgarten dank herumliegender Blätter etwas ungepflegt wirkt. Was soll uns das sagen? Sind das gute oder schlechte Vorzeichen? Weder noch, denn nach wenigen Seiten ist klar, dass diese Zeichnungen den Charakter der anstehenden Lektüre einfach nur sehr gut einfangen.
Der Stoff, den Michel Rabagliati hier präsentiert, ist nicht einfach und sollte in gut aufgelegter Stimmung goutiert werden. Er erzählt vom 51-jährigen Paul, der in Montreal allein in seinem Haus lebt und es gerne sehen würde, wenn seine 19-jährige Tochter wieder zu ihm ziehen würde. Wenigstens für eine kurze Zeit und vermutlich in der stillen Hoffnung, dass damit wieder etwas Leben in die eigenen vier Wände einzieht. Das stimmt nachdenklich. Rabagliati erzählt unter anderem auch von Pauls Eltern und konzentriert sich dabei auf dessen Mutter. Die Geschichte beginnt eigentlich ganz nett. Junge trifft Mädchen und die beiden heiraten schließlich in den 1960ern. Doch nachdem Paul alt genug und ausgezogen ist, beginnt es in der Ehe zu kriseln und die beiden lassen sich scheiden. Danach durchlebt die Mutter neben einigen guten eher schlechte Zeiten und lebt nun, mit 72 Jahren, in einem Seniorenheim. Offenbar nicht unglücklich, aber Paul sieht das verständlicherweise anders. Diese Episode liest sich bittersüß und verdeutlicht den wehmütigen Grundton des gesamten Albums.
Paul ist zu Hause bei seiner Mutter und wirkt im letzten Panel traurig. Er ist eben kein Sonnenscheinchen.
Rabagliati erzählt Alltagsgeschichten und schnell kommt dabei die Frage auf, wie viel von ihm selbst in Paul steckt. Schließlich ist seine Hauptfigur Comiczeichner wie er und die Edition 52 beschreibt sein Werk als halbautobiografisch. Diese Frage wird zwar nicht beantwortet, vermittelt dem Leser aber zusätzlichen Realitätsbezug. Michel Rabagliati ist Kanadier und zeichnet seit mehr als 20 Jahren an seiner Graphic-Novel-Reihe, die mittlerweile zwölf Bände umfasst. Hierzulande gab es 2008 in der Edition 52 schon mal etwas von ihm, seinen zweiten Comic Pauls Ferienjob. Seine Zeichnungen sind mehr oder weniger realistisch und passen perfekt in die Schublade »nordamerikanischer Independent-Comic«. Und nachdem man auf seiner Homepage gelesen hat, dass er in ganz jungen Jahren begann, sich für Comics zu begeistern und die Magazine Spirou und Tintin abonnierte, fällt es einem wie Schuppen von den Augen und seine europäischen Einflüsse werden sichtbar.
Paul zu Hause hat zwar einen durchgängig melancholischen Grundton, bietet aber trotzdem zahlreiche unterhaltsame Momente. Erstaunlicherweise fällt das erst nach der Lektüre und mit einem gewissen Abstand auf, durch den man Zeit hatte, den Inhalt sacken zu lassen. Zum Beispiel mag sein Held Schriftarten und ist in einzelne so sehr verliebt, dass sie ihn sogar beim Einkauf beeinflussen. So wundert sich seine Mutter, dass er zur Campbells-Brühe greift, obwohl die der Marke Metro viel billiger ist. Und will in diesem Zusammenhang den ausschlaggebenden Grund ihres Sohns so gar nicht nachvollziehen, dass deren »Typo so hässlich ist«. Tja, Paul ist eben etwas kauzig.
Pauls Nachbar Tonio nervt ihn zwar, aber im Grunde findet er ihn und seinen grünen Daumen ziemlich cool.
Sehr hübsch ist die Geschichte von der Bankfiliale, in der er seine Barschecks einlöst. Hier konstruiert er augenzwinkernd eine Art Men-in-Black-Plot, der eigentümlicherweise sogar noch glaubwürdig klingt, und hat am Ende für die geschilderten Ereignisse schließlich doch eine höchst irdische Erklärung parat. Auch ulkig: Er hat einen Hund, der offenbar sprechen kann. Doch ist diese Interaktion real oder nur eine Visualisierung von Selbstgesprächen?
Pauls Alltag ist bisweilen sehr trüb. Das passende Wetter gibt es als Zugabe.
Rabagliati erzählt in diesem hübschen Band zwar mit einem traurigen Unterton und lässt seinen Paul in weiteren Geschichten bisweilen kleinere oder größere Dramen durchleben. Aber keine Tragödien – bis auf eine Ausnahme. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten. Vielmehr zeigt er, dass im Leben vieles nicht so toll, aber trotzdem nicht alles verloren ist. Und wartet am Schluss, das ist erstaunlich, mit einer recht überraschenden und sehr gut passenden Pointe auf, die das Album würdig abschließt.
[Walter Truck
Abbildungen © 2022 Edition 52 / Michel Rabagliati
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