Frisch Gelesen Folge 116: Strannik

»Als Kind träumte ich davon, Polizist zu werden. Das war aber mit meinem Sprachfehler nicht möglich. Besonders an der kalten Luft wird es noch schlimmer. Es gab so viele Berufe, die ich nie hätte ausüben können.«


 FRISCH GELESEN: Archiv


Strannik

Story: Anna Rakhmanko
Zeichnungen: Mikkel Sommer

Rotopol
SC │ 48 Seiten │ einfarbig │ 14,00 €
ISBN: 978-3-96451-004-4

Genre: dokumentarischer Comic, Zeitgeschehen

Für alle, die das mögen: die ungeschminkte, dokumentarische Realität


 

Ein bärtiger Mann, unterwegs in der Großstadt. Er steht im Mittelpunkt dieses dokumentarischen Comics. Er heißt Vyacheslav, ist in Moskau zu Hause, lebt von Mixed-Martial-Arts-Kämpfen und öffnet sich hier, um von sich und seinem Leben zur erzählen. Es dauert einen Moment, bis man realisiert, dass Vyacheslav zu einem nicht näher beschriebenen Treppenhaus unterwegs ist, um dort auf ausgebreiteten Zeitungen zu schlafen. Der Begriff Strannik (russisch für Wanderer, aber auch Heimatloser) passt gut zu ihm und klingt besser als Obdachloser.

 
Schönes Wohnen sieht anders aus.

Vyacheslav kam mit einer Lippen- und Gaumenspalte zur Welt und wurde deswegen gemobbt. »Ich hatte auch viele Probleme mit anderen Kindern. Sie wollten nicht mit mir spielen, weil sie nicht verstanden haben, was ich sage«, erinnert er sich. Und die Ausgrenzung ging später weiter: »Als es Zeit war, zur Schule zu gehen, wurde ich einer Schule für geistig Behinderte zugewiesen. Dabei hat meine Sprachstörung gar keinen Einfluss auf mein Gehirn.« Trotzdem mühte er sich nach Kräften, ein beruflich erfolgreiches Leben zu führen. Er studierte Lichttechnik fürs Theater, ging später an die journalistische Fakultät und arbeitete kurzzeitig in diesem Beruf. Später war er Wachmann in einem unruhigen Stadtteil Moskaus und begann während dieser Zeit mit der Vollkontakt-Kampfsportart. Nach seiner Kündigung blieben ihm nur noch die Kämpfe. Ein Broterwerb, dem er sicherlich nicht mehr so lange nachgehen kann. Denn inzwischen häufen sich inoffizielle Wettbewerbe, die ohne Regeln ausgefochten werden und entsprechend gefährlich sind.

 
Mit Pragmatismus zum Kampfsportlehrer.

Nach und nach schält sich das Bild eines Mannes heraus, den das Leben arg gebeutelt hat. Ein Mann, der eine brutale Tätigkeit ausübt, auf wundersame Weise sanft geblieben ist, zwar traurig aber keinesfalls verbittert wirkt. »Ich will nicht mehr kämpfen, aber ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Ich mag es nicht, wenn es den anderen wehtut«, sagt Vyacheslav müde. Nur einmal blitzt ein ganz klein wenig Groll auf: »Was mich am meisten an meinem Vater ärgert, ist, dass er meine Sachen weggeworfen hat. Er hat meine Lieblingsjacke und viele Bücher weggeschmissen.« Und trotzdem zeigt Vyacheslav Verständnis dafür. Er liebt seine Eltern und hält den Kontakt. Weil sie im weit entfernten Samara-Gebiet leben, kann er sie aber nur einmal im Jahr sehen. Mehr als einen Besuch an Silvester kann er sich nicht leisten.
Vyacheslav Schilderungen machen nachdenklich und wecken Emotionen. Wie hält dieser Mann nur sein Leben aus? Wie kommt es, dass er scheinbar so gut wie keinen Ärger verspürt?

Es ist das Bild einer trüben und harten Welt, die Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer hier zeichnen. Sommers monochrome Grafiken sind schraffiert, streckenweise schemenhaft und erzeugen eine nüchterne Grundstimmung; den Figuren fehlen manchmal die Gesichter. Alles scheint in ein frustrierendes Grau getaucht zu sein. Vyacheslavs Erinnerungen sind in Schreibmaschinenschrift gelettert und untermalen die geschilderte Trostlosigkeit. Diese Texte haben es in sich, trotz ihrer Knappheit. Es kann vorkommen, dass man Details erst nach zwei- oder dreimaligem Lesen erfasst. Interessant ist, dass Bild und Text nicht synchron verlaufen, sodass das Lesen dieses Bandes ein gewisses Extra an zusätzlicher Konzentration erfordert. Strannik ist eine beeindruckende Arbeit, die wie ein blitzschnell zu lesender Comic daherkommt, unerwartet aber mit reichlich Tiefgang aufwartet.

 
Bedrückend: unerfüllte Erwartungen.

Im Schlusswort steht, dass die Autorin und der Zeichner 2014 das erste Mal von Vyacheslav und seinem Leben hörten und sich einige Wochen danach mit ihm in einem Moskauer Café trafen. Es folgten Tage der Gespräche über dessen Träume, Ideen und Erinnerungen. Danach begleiteten ihn beide in eine abgesperrte Militärstadt im Süden Russlands, wo er an einem Kampf teilnahm. Die Erlebnisse und Gespräche inspirierten Rakhmanko und Sommer zu diesem Projekt. Sämtlicher Verdienst, den ihr Comic erlöst, geht direkt an Vyacheslav, um dessen Leben etwas einfacher zu machen. Klingt gut. Ich würde mich freuen, wenn es hierzu in näherer Zukunft eine Pressemeldung gibt, um zu erfahren, wie sich dieses Projekt in diesem Punkt entwickelt hat.

[Walter Truck]

Abbildungen © 2019 Rotopol


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