Frisch Gelesen Folge 149: Daidalos 1

»Es geht um meinen Kopf ... und all das kranke Zeug, das sich darin abspielt.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Daidalos Band 1

Text: Charles Burns
Zeichnungen: Charles Burns

Reprodukt
Hardcover | 64 Seiten | Farbe | 20,00 €
ISBN: 978-3-95640-209-8

Genre: Coming of Age, Slice of Life, Horror, Mystery

Für alle, die das mögen: Black Hole, X, Die Kolonie, Zuckerschädel


 

Jim Morrison und seine Combo hatten recht. Wir leben in seltsamen Zeiten. Strange Days. Das Coronavirus bringt das öffentliche Leben zum Erliegen. Museen, Konzertsäle, Theater und Kinos sind schon dicht, bundesweite Ausgangssperren unvermeidlich. Die Kultur zieht sich in die eigenen vier Wände zurück, in denen die Angstlust an der Apokalypse ungebrochen scheint. Bei den Streamingriesen liegen Filme wie Contagion (2011), Outbreak (1995) oder World War Z (2013) und Serien wie Pandemie (2020) im Trend. Wer an solchen Weltuntergangsszenarios keine Freude hat, aber durchaus welche am gepflegten Unbehagen, der kann stattdessen Strange Days (1967) von den Doors auf den Plattenteller legen, Charles Burns' neueste Verrücktheit zur Hand nehmen und losschmökern. Beim Schöpfer von Black Hole geht es gewohnt seltsam zu. Kuriose Kopfgeburten wie diese grüßen bereits von Seite 3:

Burns' Bilder beeindrucken. Allein das Nachdenken darüber, wie einer auf solche Ideen, Kreaturen und Formen kommt, erzeugt bei der Lektüre einen stimulierenden Gedankenstrom. Ebenso geschmeidig fließt die Handlung dahin, bietet aber wenig Neues. Gemessen an seinen besten Geschichten löst diese jüngste keine Begeisterungsstürme aus. Abermals erzählt der 1955 geborene Comickünstler von Teenagerängsten und Teenagerlüsten. Abermals liegen diese Ängste und Lüste hinter einer kleinbürgerlichen Fassade mit Rosenhecke und weißem Gartenzaun begraben. Und abermals spiegelt Burns seine eigene Erzählung anspielungsreich in (einer) prominenten anderen, bildet sein Medium Comic ein anderes Medium ab:

Burns' Protagonist heißt Brian Milner, liebt Science Fiction und zeichnet unentwegt. Ohne sein Skizzenbuch, in das er Wirres und Wildes kritzelt, »das kranke Zeug« aus seinem Kopf, wie er es selbst formuliert, geht er nie aus dem Haus. Auf Partys sitzt er lieber mit Stift und Papier in der Küche, als sich unter die Feierwütigen zu mischen. Schon als Highschool Kid hat er mit seinem besten Kumpel Jimmy Amateurfilme gedreht. Sie tragen Namen wie The Creeping Flesh und erzählen davon, wie Aliens die Erde infiltrieren. Jahre später führt Jimmy die eigenen Streifen gemeinsam mit anderen Super-8-Genreperlen im heimischen Wohnzimmer vor. Jimmys ganz privates Shock Theatre. Mit von der Partie ist auch Laurie, die in Jimmys und Brians nächstem Filmprojekt die Hauptrolle übernehmen soll. Sie reißt Brian für kurze Momente aus der Lethargie. Meist bleibt der Sonderling aber abwesend, so als ob er nicht von dieser Welt wäre.

Burns erzählt diese Story, dieses Annähern und Abtasten zweier junger Menschen, aus zwei Perspektiven. Brians und Lauries Sicht wechseln sich ab. Dazwischen drängen sich unheilvolle Szenen, von denen offenbleibt, ob es sich um Tagträume, nächtliche Albträume, das Szenario des angedachten Films oder gar um reale Ereignisse handelt. Dieser Schwebezustand gepaart mit dem kleinbürgerlichen Setting und einem Retro-Look, die in Burns' Werk immer wiederkehrenden Erzählmuster, in denen das Unbehagen des Unbewussten an die Oberfläche drängt, haben ihm den Vergleich mit David Lynch, dem großen Verstörer und Nachtmahr-Visionär des Kinos, eingebracht. Doch wie so viele nahe liegende Vergleiche hinkt auch dieser. In ihrer Kombination bekannter Versatzstücke und eigener Innovationen ist auch Burns' Kunst gleichsam originär wie originell.

Wohin die Reise gehen wird, ist am Ende dieses ersten Bands vollkommen offen. Was hat es beispielsweise mit dem Titel auf sich? Spielt er auf Brian als begnadeten Künstler an? Wird dieser aus Eifersucht auf die Kreativität eines anderen zum Verbrecher werden? Und wer fliegt in diesem Comic zu nah an der Sonne?

Thematisch könnte die Geschichte derweil kaum besser in diese seltsamen Tage passen. In einem schäbigen Kino namens »Last Exit Brooklyn« sehen sich Brian und Laurie die 1956er Version von Invasion of the Body Snatchers an. In Don Siegels Adaption des gleichnamigen Romans von Jack Finney tauschen Außerirdische die Einwohner eines kleinen kalifornischen Städtchens gegen gefühllose Doppelgänger aus, was wahlweise als Allegorie auf eine kommunistische Infiltration oder auf die Kommunistenhatz der McCarthy-Ära interpretiert wurde. Politische Dimensionen der Science Fiction während des Kalten Kriegs.

Auch dieser Tage ist die Bedrohung unsichtbar. Wer das Virus in sich trägt und somit überträgt, ist mit bloßem Auge nicht auszumachen. Im Kampf gegen Covid-19 nehmen nicht wenige Politiker das Wort Krieg in den Mund. Der Feind (um in ihrer Sprache zu bleiben) steht allerdings weder links noch rechts. Ein Virus hält sich weder an Grenzen, noch schert es sich um Parteipolitik. Die Realität überholt dieser Tage jedes Sci-Fi-Szenario. Strange Days, indeed!

[Falk Straub]

Abbildungen © 2020 Reprodukt


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