Reprodukt: Habibi und Tagebuch einer Reise

Rezension



Märchenhaft indirekt & schonungslos direkt

Geschichtenerzählen mit Craig Thompsons Habibi und Tagebuch einer Reise



Hallo! Wie geht’s? Ich darf euch doch duzen? Macht's euch gemütlich. Heute geht's ums Geschichtenerzählen. Und ich erzähle euch nun ein bißchen von zwei Büchern, die quasi bei ihrer »Zeugung« getrennt wurden. Sie gehören zwar »irgendwie« zusammen, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden.  Das eine ist ein großer, dicker Comicband, eine sogenannte »Graphic Novel«, mit allem was das Herz begehrt. Das andere ist ein kleines, aber feines Tagebuch, das aber weite Strecken ebenfalls wie ein Comic aussieht, schließlich sind sehr viele Zeichnungen drin. Die Trennung der beiden Bücher wurde im Herbst 2011 beendet, denn im Oktober hat der Berliner Verlag Reprodukt ihre deutschen Versionen vereint. Nun stehen sie in den Läden und warten darauf, dass einer sie aufschlägt und sich von ihrem Zauber betören lässt.

→ von Matthias Hofmann



Ja, Craig Thompson hat abgeliefert. Aber so richtig. Im Sinne von »total«. Sein neustes Werk heißt Habibi und verschlang rund sieben Jahre seiner Schaffenskraft. Ganz schön lange her, dass etwas Neues von Thompson erschienen ist. Zuletzt war das 2003, da erschien von dem 1975 geborenen US-Amerikaner das inzwischen preisgekrönte und mit Lob überhäufte Blankets. Seit ungefähr 2004 beschäftigte er sich konkret mit der Idee, den Islam besser verständlich zu machen und die arabische Kultur von ihrer schönen, menschlichen Seite zu zeigen, wie er in einem aktuellen Interview für das NEW YORK Magazinesagte. Ein interessantes Unterfangen, zumal er selbst stark christlich erzogen und geprägt wurde.

Diesmal waren es nicht die Amerikaner, die zuerst in den Genuss des fertigen Werkes kamen. Weltweit wurde der voluminöse Band parallel auf die Startrampen geschoben. Für den deutschen Verlag war die Produktion eine große Sache (siehe: Besondere Herausforderungen – Craig Thompsons Habibi bei Reprodukt). Und für Michael Hau, der alle Seiten handgelettert hat, sicherlich auch. Reprodukt vermarktet Habibi als »außergewöhnliche, epische Liebesgeschichte, eine eindringliche Parabel über das gemeinsame Erbe von Islam und Christentum und allem voran eine Ode an die Magie des Geschichtenerzählens«. Und in der Tat, vieles an Habibi erinnert an eine moderne Interpretation der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.

Die Story in einer Nussschale

Hat man den Wälzer vor sich liegen und würde nicht der Name des Autors drauf stehen, könnte man meinen, vor einem läge die Heilige Schrift. Das Buch ist hochwertig produziert und beeindruckt bereits durch seine bloße Erscheinung. Das Buch bringt stolze 1722 Gramm auf die Waage, alleine der Rücken ist sieben Zentimeter dick, mehr als 670 Seiten versammeln sich zwischen den Deckeln.

Hat man den Wälzer gelesen, muss man konstatieren, dass sich der inhaltliche Kern von einem begabten Menschen auf ein Reiskorn schreiben ließe, oder zumindest auf eine Walnuss.

Kurz und bündig zusammengefasst geht die Handlung so: Zwei Sklavenkindern, dem Mädchen Dodola und dem Jungen Zam, wird vom Schicksal übel mitgespielt. Dodola wird als Kind an einen Schreiber verheiratet, lernt von ihm zwar Lesen und Schreiben, aber auch wie man die Lust von Männern befriedigt, eine Aufgabe, die später zur Profession wird, um ihr beider Überleben zu sichern. Zam soll als kleiner Junge bereits getötet werden und wird durch eine List von Dodola gerettet. Beide wachsen zusammen in einem »gestrandeten« Schiff in der Wüste auf. Das Schicksal reißt sie auseinander und bringt sie viele Jahre später im Harem des Sultans zusammen. Dort können sie entfliehen und leben fortan in der Hauptstadt im fiktiven Lande Wanatolien.

Bibel meets Koran

Trotz der simplen Grundstory, die man auch gut als orientalische Love-Story an die Frau bringen könnte, überschlägt sich die Kritik weltweit mit Lob. Manche gehen sogar so weit, dass sie Thompson als großen zeitgenössischen, amerikanischen Autor im Sinne von Schriftsteller sehen, nur dass er halt seine Geschichte mit dem Pinsel oder dem Zeichenstift verfasst.

Und das ist so verkehrt nicht. Was man nicht leugnen kann: Habibi ist imposant. Was im Grunde eine sehr simple Sache ist, wächst bei Craig Thompson, wie bei allen guten Werken, über sich hinaus. Bereits wenn man Habibi aufschlägt, kann man spüren woher der Wind weht. Das Buch ist eine kongeniale Melange aus optischen Reizen und inhaltlichen Denkanstößen. Die Handlung spielt in einer nicht näher beschriebenen Zeit. Oft wähnt man sich im betörend-mystischen Setting orientalischer Märchen, doch Thompson lässt keinen Zweifel daran, dass die Figuren in der dreckigen Moderne agieren. Bereits hinter den Buchdeckeln erblickt der Leser als erstes doppelseitig ein schier endloses Meer aus Müll und nach nur wenigen Seiten braust der Kalligraph, der Dodola gekauft hat, mit einem Motorrad davon. Auch wenn diese oft ebenso krass sind, so beginnen nicht die Märchen, die wir aus unserer Kindheit kennen.

Es ist diese gekonnte thematische Interaktion von Parabeln und Gleichnissen aus dem Koran und der Bibel, aus Orient und Okzident, die Habibi einen altehrwürdigen, mittelalterlichen Touch geben und gleichsam die Auswirkungen moderner Zivilisation mit ihrer erschreckenden Brutalität, die das Ganze erden und von der unterhaltenden auf eine kritische Ebene ziehen. Thompson staffiert seine Story mit unzähligen erzähltechnischen Ausflügen aus, die scheinbar wenig mit der Handlung zu tun haben. Vieles hat mit arabischer Kalligraphie zu tun, welche den Mid-Dreißiger in besonderem Maße beschäftigte. Wenn er beispielsweise auf Seite 30 einen Fluss zeichnet, nimmt er dessen mäandernde Form zum Anlass, die grafische Vielfalt der arabischen Schrift zu erklären. Dabei verschmelzen Text und Bild ineinander, bricht die Erzählweise auf und hebt das so Dargestellte auf ein metaphorisches Niveau, das fasziniert.

Ja, was? Das hört sich ziemlich abgehoben und abstrakt an? Ist es aber nicht. Lasst euch sagen, mir hat Habibi die Augen geöffnet. Ich weiß nicht, wie es um eure Religiosität steht. Mich kann man normalerweise mit dem Koran jagen. Und in der Bibel habe ich zuletzt im Religionsunterricht gelesen bzw. lesen müssen, bevor ich das Fach abgewählt habe. Und trotzdem habe ich Habibi gelesen und mein Interesse am Fortgang und an den Inhalten der Geschichte wuchs mit jeder Seite. Wie jede gute Droge wirkt der Stoff, aus dem Habibi gemacht ist, bewusstseinserweiternd. Kein Witz, probiert's aus.

Hinzu kommt, dass Thompsons Erzählweise nicht unbedingt linear ist. Obwohl er einem, zugegebenermaßen etwas arg dünnen, roten Faden folgt, springt er immer wieder zwischen verschiedenen Erzählsträngen hin und her und auch zeitlich vor und zurück. So wird zum Beispiel erst sehr spät in der Geschichte thematisiert, wie die Kinder im Schiff gelandet sind. In Verbindung mit grafischen Spielereien, einfach nur unterhaltenden Passagen, schonungslosen, fast unerträglichen Szenen und einem sarkastischen Humor wird die Lektüre zu einem fesselnden Abenteuer, das auch den größtmöglichen Zweifler abholt und mit auf die Reise nimmt.

Natürlich gerät das Buch stellenweise etwas aus den Fugen. Thompson war noch nie einer, der seine Aussagen gekonnt auf den Punkt gebracht hat. Bereits sein Erstlingswerk, die Funny-Animal-Geschichte Good-Bye Chunky Rice, war als Kurzgeschichte geplant und entwickelte sich letztlich zum mehr als hundertseitigen Album. So könnte man ohne zu lügen sagen, dass sich Thompson zu sehr in Details verliebt hat und manchmal fast geschwätzig vom Thema abkommt. Kein Wunder, denn er lässt kein Klischee aus: das Verheiraten Minderjähriger, das Leben im Harem, die moderne Sklaverei und islamistischer Extremismus, um nur einige zu nennen. Aber letztlich erzählt Thompson, wie Scheherazade, nichts anderes als eine unterhaltsame Geschichte, die sich selbst wiederum als Füllhorn mit vielen weiteren unterhaltsamen Geschichten herausstellt. Das reicht nicht aus als Lektüre für tausendundeine Nächte, aber für viele Lesestunden und darüber hinaus für viele weitere Minuten des Wiederlesens, des Blätterns, Betrachtens, Entdeckens und bewundernden Staunens.

Unterhaltsamer als ein paar Reisedias

Aber da ist noch mehr. Allen, die Habibi gelesen haben, empfehle ich als ergänzende Lektüre das Tagebuch einer Reise. Die Recherchen für sein Mammutwerk sowie eine Signiertour für Blankets führten Thompson für einige Monate nach Europa und Marokko. Vom 5. März bis zum 14. Mai 2004 zeichnete der Amerikaner ein »simples Reisetagebuch«, wie der Künstler in einer Art Warnhinweis zu Beginn seines Werkes schreibt. Aber natürlich ist diese Bemerkung ein großes Understatement. Denn sein Reisetagebuch besteht aus einer wunderschönen Kollektion von Beobachtungen, Porträts, Stillleben und Kurzcomics, die teilweise detailliert und mit Raffinesse ausgearbeitet sind.

Als Thompson diese Reise antrat, hing er noch seiner alten Liebe, jener Freundin, die ihn kurz davor verlassen hat, nach und scheute sich nicht, seine Ängste im Umgang mit Frauen darzustellen. Überhaupt bietet das Werk nicht nur einen wunderbaren Einblick in die Psyche eines alleinreisenden US-Amerikaners, der von Weltschmerz und Selbstzweifeln geplagt wird, sondern auch in die französische Buch- und Comic-Branche. Immer wieder hat Thompson Termine, die er wahrnehmen muss, Meetings mit Verlagsmitarbeitern, Signierstunden in Buchhandlungen oder auf Comic-Festivals. Oder er trifft andere Comiczeichner sowie Freunde und Bekannte. Und in den vielen Wochen in Marokko versucht er die Lebensweise der Einheimischen aufzusaugen, so gut dies als Tourist aus den USA überhaupt geht, und zeigt nicht nur die schönen Erlebnisse, sondern auch die Kehrseiten mit entlarvender Ehrlichkeit. Das gehört zu den stärksten Passagen des Tagesbuchs und sorgt auch beim Leser für einige intensive Momente.

Reprodukt legte den Reisebericht bereits 2005 zum ersten Mal auf. Im Zuge von Habibi druckte man nun eine zweite Auflage. Eine kluge Entscheidung, denn das kleinformatige Büchlein, das eher als unscheinbares Nebenprodukt entstand und ursprünglich gar nicht zur Veröffentlichung gedacht war, kann als eigenständiges Werk recht gut bestehen. Schade nur, dass Thompson im Mai 2004 aufgehört hat, denn seine damalige Reise ging noch weiter und führte ihn nach Städten wie Bilbao, Amsterdam oder London auch in deutsche Gefilde (Erlangen und Frankfurt).

Moderner Klassiker

Was für ein ausgewalztes Label, aber Craig Thompsons Habibi ist ein »instant classic«. Dass er es zeichnerisch drauf hat, wussten wir schon vorher. Sein stark von Will Eisner inspirierter Stil ist einfach meisterhaft. Hier steht nicht nur Realistisches neben Cartoonigem, bei Habibi kommt dieser ganze kalligrafische Unterbau dazu, den manche als optischen Firlefanz abtun könnten, weil es stellenweise doch sehr von der Geschichte ablenkt, der aber ein wichtiges Stilmittel ist, um neben dem arabischen Geist auch den Mythos der Schriftzeichen greifbar zu machen.

Mit Habibi schafft Craig Thompson das, was nur große Erzähler erreichen. Die Lektüre dieser Graphic Novel unterhält und gefällt nicht nur, sondern sie bereichert. Sie bereichert das Wissen und erweitert den Horizont des Lesers, und sie schafft Interesse für andere Denkweisen. Man spürt als Leser das Verlangen, darüber zu reden. Über die Story, die grafischen Spielereien und das ganze Drumherum. Und diese Wirkung erzielt Thompson mit einer simplen, klischeehaften 08/15-Story. Chapeau!

Somit ist gerade bei Habibi der Weg das Ziel. Lässt man Thompsons selbstverlegte Mini-Comics und das Tagebuch außer Acht, hat er sich mit nur drei Werken ins Pantheon der arrivierten Comic-Autoren katapultiert. Das macht ihn zum Stanley Kubrik der zeitgenössischen Comiczeichner. Hoffen wir, dass ihm die fortschreitende Arthritis seiner rechten Hand nicht so stark zu schaffen macht und es nicht wieder sieben Jahre dauert, bis sein nächstes Werk erscheint. Und bitte verzeiht mir, wenn ich es abschließend so salopp und schamlos direkt ausdrücke: Habibi ist ganz »großes Tennis« und sollte in keinem Comic- oder gar Buchregal fehlen.

Abbildungen © Reprodukt / Craig Thompson


Die Daten

Habibi (Originaltitel: »Habibi«)
Autor/Zeichner: Craig Thompson
Reprodukt
Aus dem Amerikanischen von Stefan Prehn und Matthias Wieland
Hardcover mit Lesebändchen, schwarzweiß, 672 Seiten, 17 x 24 cm, 39,- Euro, ISBN 978-3-941099-50-0

Tagebuch einer Reise (Originaltitel: »Carnet de Voyage«)
Autor/Zeichner: Craig Thompson
Reprodukt
Aus dem Amerikanischen von Matthias Wieland
Softcover/Klappenbroschur, schwarzweiß, 224 Seiten, 22 x 14 cm, 16,- Euro, ISBN 978-3-938511-17-6


Weiterführende Links:

Der Blog von Craig Thompson: Doot Doot Garden
Gezeichnete Rezension von Habibi: Washington Post
Habibi: Leseproben
Tagebuch einer Reise: Leseproben