»19 Jahre lang hat er unser Leben bereichert. Mit großer Sensibilität ausgestattet sah er das Unrecht und nannte es beim Namen, spürte er die Hilfsbedürftigkeit, half und war immer seinem Gewissen verpflichtet.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Gegen mein Gewissen
Story: Hannah Brinkmann
Zeichnungen: Hannah Brinkmann
avant-verlag
Hardcover | 232 Seiten | Farbe | 30,00 €
ISBN: 978-3-96445-040-1
Genre: Biografie, Geschichte, Drama
Für alle, die das mögen: Strannik, Jein
Anfang 1974 nimmt sich Hermann Brinkmann das Leben. Die Angehörigen sind erschüttert. Kurze Zeit später wenden sie sich mit einer Todesanzeige, die einleitend die obigen Sätze enthält, anklagend an den deutschen Staat. Wie konnte es dazu kommen? Nun, der 19-jährige Hermann ist tot, weil er als überzeugter Pazifist den Wehrdienst nach knapp drei Monaten Dienstzeit nicht mehr ertrug.
Die Gewissensfrage: Assoziationen während der hitzigen Debatte bei Kaffee und Kuchen
Hannah Brinkmann ist Hermanns Nichte und erzählt in dieser Graphic Novel seine traurige Geschichte. Ihr Zeichenstil ist ungewöhnlich, die Grafiken wirken zunächst ungelenk und naiv. Doch nach unglaublich wenigen Seiten verfliegt dieser Eindruck. Stattdessen zeigt sich die Bandbreite ihres künstlerischen Könnens. Collagenartige Seiten lockern den Erzählfluss auf und enthalten jede Menge Informationen und Familienerinnerungen. Und mit psychedelisch anmutenden Grafiken fühlt sie sich in das Seelenleben ihres verstorbenen Verwandten ein.
Psychedelisch anmutende Grafik: Angsterfüllte Visionen eines in die Ecke Gedrängten
Schon als Kind zeigt sich, dass Hermann nicht so ist wie die anderen. Zwar spielt auch er gerne Cowboy und Indianer, ist hier aber lieber der Indianer und verzichtet, obgleich es sich nur um ein Spiel handelt, auf Pfeil und Bogen. Er brauche die auch nicht, erklärt er seinem Spielkameraden, er habe ja die »Kraft der Tarnung«. Er will keine Waffen in die Hand nehmen. Das macht er in jungen Jahren seinen Verwandten sehr deutlich, als diese wieder mal zur Jagd gehen und er sie als Mörder beschimpft, weil sie unschuldige Tiere töteten. Diese Überzeugung beschert ihm später, als der Musterungsbescheid ins Haus flattert, viele Probleme. Denn einfach so Zivildienst machen, ging damals nicht. Davor musste sich jeder Verweigerer einer Gewissensprüfung unterziehen. Der Leser ahnt es, die zu bestehen, war sehr schwer. In diesen Verfahren traf der potenzielle Ersatzdienst Leistende auf Gutachter, die mit Fangfragen versuchten, dessen Meinung zu erschüttern. Nach dem Motto »Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei« rasselt Hermann durch die Gewissensprüfung und muss zur Bundeswehr.
Allerdings nutzte er im Vorfeld eine elegante Lösung seines Problems nicht. Er hätte sich vor seinem Einberufungsbescheid in West-Berlin wohnhaft melden können, denn bis zur Wiedervereinigung gab es dort keine Wehrpflicht. Der Erzählung ist jedoch zu entnehmen, dass er etwas blauäugig war, dies ablehnte, der Welt etwas beweisen und ein Zeichen setzen wollte. Das ging leider schief und endete tragisch mit dessen Freitod.
Der Antrag (oben) und die Gewissensprüfung (unten) als Spießrutenlauf
Hermann war Hannah Brinkmanns Onkel, den sie nie kennenlernen konnte. Ein Onkel aber, der in ihrer Familie immer eine gewisse Rolle spielte. Und jemand, über den nie gerne viel geredet wurde. Das weckte das Interesse der 1990 in Hamburg geborenen Künstlerin. Als sie begann, seine Geschichte aufzuarbeiten, so erinnert sie sich zum Ende ihres Bandes, ging eine Welle der Unruhe durch die Familie. Sie war sich sicher, dass ihre Familie Hermanns Tod verdrängt hatte, um den Gefühlen von damals auszuweichen. Doch mit dieser Vermutung lag sie falsch, schreibt sie auf der Folgeseite. Hermanns Bruder erklärte ihr, dass sich die Familie fortwährend mit diesem Thema beschäftigt hatte. »Es wurde nicht verdrängt – es wurde gekämpft.« So wie Hermanns Eltern mit der oben erwähnten Todesanzeige. Schön ist, dass sich Brinkmanns Vater bei seiner Tochter bedankt, dass sie diese Geschichte wieder ausgrub, obwohl er die Vergangenheit einfach vergessen wollte. »Dadurch, dass du seine Geschichte aufgearbeitet hast, hast du ihr einen Sinn gegeben.« Hannah Brinkmann ist in ihren Schilderungen sehr emotional, gleichzeitig aber auch sehr ruhig und klagt niemanden an. Vielmehr überlässt sie es dem Leser, Schlüsse aus ihren Recherchen zu ziehen.
Kriegerische Lektüre: kein schöner Ausblick auf den Wehrdienst
Gegen mein Gewissen ist ein toller Band über ein Einzelschicksal und die Geschichte einer Familie. Gleichzeitig zeichnet Brinkmann nach, wie in den 1950ern die Wehrpflicht und Wiederbewaffnung der Bundeswehr politisch vonstattengingen. Und sie entführt den Leser in eine etwas spätere Zeit, in der der Slogan »Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren« gerade mal fünf Jahre alt war und ein Lehrer einfach so an die Tafel schreibt: »Es gibt zwei Teufel in Deutschland, die Deutschland und die Welt zersetzen wollen: Walter Ulbricht und John Lennon«.
Übrigens: Die allgemeine Wehrpflicht wurde zum 1. Juli 2011 ausgesetzt, aber nicht abgeschafft.
[Walter Truck]
Abbildungen © 2020 avant-verlag
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