»So bösartig die Natur ist, so zärtlich schützt uns unsere eigene Blindheit.«
»Die Leute arrangieren sich halt. Heiraten, bekommen Kinder. Eine lesbische Freundin hat einen schwulen Mann geheiratet und sie haben zwei wunderschöne Kinder. Sie sind beste Freunde. Und müssen ihre Eltern nicht blamieren.«
»Ich war mittlerweile nahezu pleite und der Zustand in Paris fing an, mich zu langweilen. Daher beschloss ich, nach Genua zurückzukehren und durch die Heirat mit Juli, wieder an Geld zu kommen.«
»Mein Name ist Kind. Aber in Zukunft nennt man uns Mensch. Und noch später wieder anders, manche Namen sind noch gar nicht erfunden.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Celestia
Story: Manuele Fior
Zeichnungen: Manuele Fior
avant-verlag
Hardcover | 272 Seiten | Farbe | 29,00 €
ISBN: 978-3-96445-057-9
Genre: Lyrik
Für alle, die das mögen: Die Übertragung, Die schwebenden Liebenden, Jäger und Sammler
Irgendwas ist passiert. Die Insel Celestia, eine Stadt, die eventuell Venedig sein könnte, liegt zu einem großen Teil unter Wasser. Auch auf dem Festland ist alles nass, so als wäre eine Flut gerade erst abgelaufen. Zudem gab es eine Invasion, gegen die Burgen gebaut wurden, aber, erzählt eine Frau, »… als sie dann kamen, waren es Millionen. Haben alles überrollt, was ihnen im Weg stand und sind nie mehr umgekehrt.« Sodass sich natürlich die Frage stellt, was das Problem ist, wenn die Invasoren nie mehr umgekehrt sind – die sind dann doch weg, oder? Aber das ist nur eine von sehr vielen Fragen, die die neue Graphic Novel von Manuele Fior unbeantwortet lässt.
Celestia ist von der ersten Seite an eine Aneinanderreihung von Rätseln. Da ist Pierrot, der Gedanken lesen kann, ungern allerdings, und auf Dora trifft, die ähnlich begabt ist. Das Duo muss sich gegen eine Bande brutaler Arschlöcher verteidigen, die wie im venezianischen Karneval verkleidet sind, hat aber Verbündete in einer Gruppe junger Menschen, die ebenfalls telepathisch begabt sind. Außerdem geht es manchmal um Sex, auch da sind die Verhältnisse unklar. Auf der Flucht vor den Arschlöchern verlassen die beiden schließlich die Stadt und machen sich auf einen Roadtrip durch eine postapokalyptische, doch friedliche Landschaft, der keinerlei Schrecken anzusehen ist.
Manuele Fior ist der poetischste unter den großen Poeten des modernen europäischen Comic. Seine Geschichten schweben oft im Vagen: Da ist was, aber was genau ist unklar. In Die Übertragung, in der ebenfalls eine Dora mitspielt, die ebenfalls telepathisch begabt ist und der Dora in diesem Band ähnelt, gibt es Kontakt zu Außerirdischen oder was auch immer, ganz klar ist das nicht, aber drumherum existieren genug Anknüpfungspunkte, um die Geschichte zumindest emotional nachvollziehbar zu machen. Die fehlen in Celestia fast völlig. Der Band ist wie ein Beispiel für die häufig geäußerte, aber völlig falsche Vermutung, Poesie sei nicht verständlich und müsste es auch nicht sein.
Tatsächlich lässt sich Lyrik selten nach-denken, aber in der Regel nach-fühlen. Dafür braucht es allerdings emotionale Anker, die hier über endlose Passagen fehlen. Wir wissen nicht, was passiert ist, warum es Telepathen gibt, warum in jedem der futuristischen Gebäude, die unterwegs passiert werden, irgendwelche Leute leben, was die tun und was das soll. Einige Momente funktionieren: Wenn Pierrot und Dora einen Ort erreichen, an dem nur Kinder leben, die verstörend übererwachsen sind, wird das jeden berühren, der jemals mit Kindern zu tun hatte. Nicht selten sprechen auch die Bilder für sich.
Die Zeichnungen sind ohnehin die große Stärke des Bandes. Die in den klaren Linien der Körper und Gebäude amorph hingeworfenen Farben geben allem etwas leicht Fluides, das sich in den verschwommenen Landschaften widerspiegelt. Manches ist einfach nur schön
anderes überraschend detailliert
vieles erfrischend vage
Schwierig wird es nur, wenn Fior versucht, seine Geschichte zu erzählen. Was auch daran liegt, dass es keine nachvollziehbaren Charaktere gibt: Die Motivation der Hauptfiguren lässt sich gerade noch zusammenreimen, die anderen Figuren sind nett oder böse, ambivalent ist auch nicht selten – aber warum? Das bleibt unklar. Und auf Entwicklung ist nicht zu hoffen – die meisten Figuren scheinen innerlich recht unbeweglich. Das Buch wirkt überhaupt sehr statisch, bis es das zum Schluss plötzlich nicht mehr ist, als sich mit einem Mal alles ändert. Aber warum? Keine Ahnung.
Manchmal hatte ich das Gefühl, ich lese einen Corona-Comic. Alles ist leer, die Menschen sind weit voneinander entfernt, über allem schwebt eine vage Verlorenheit. Da ist was passiert. Und jetzt müssen wir damit leben. Könnte sein. Es könnte aber auch um irgendwas anderes gehen. Und das ist keine Qualität von Poesie. Die erschafft in den Lesenden Bilder, die sich in Worten nicht beschreiben lassen, aber trotzdem spezifisch sind – wir fühlen alle dasselbe. Zu Celestia dagegen kann sich jeder irgendwas was denken. Aber warum?
[Peter Lau]
Abbildungen © 2021 avant-verlag / Manuele Fior
Kauft den Comic im gut sortierten Comicfachhandel: CRON-Händlerverzeichnis
Oder beim Verlag: avant-verlag
»Nun, ich für meinen Teil werde diesen Sommer mit Dope rauchen, Dope essen, Dope trinken verbringen und so mein Bewusstsein erweitern.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Freak Brothers Gesamtausgabe 1
Story: Gilbert Shelton (u. Dave Sheridan, Paul Mavrides)
Zeichnungen: Gilbert Shelton (u. Dave Sheridan, Paul Mavrides)
avant-verlag
Hardcover | 320 Seiten | s/w u. Farbe | 39,00 €
ISBN: 978-3-96445-054-8
Genre: Alternativ, U-Comics, Comics für Erwachsene
Für alle, die das mögen: Raymond Martin, Volksverlag, 60er und 70er Jahre, Fat Freddy's Cat, Studentenbewegung, Charles Bukowski, Fritz the Cat, Robert Crumb, Gerhard Seyfried
Jetzt soll es nicht zur Tradition werden, Rezensionen mit irgendwelchen alten Geschichten anzufangen. Aber dieses Mal muss es dann doch sein. 1980 hatte der knapp neunzehnjährige Benedikt Taschen in Köln in der Lungengasse den – meines Wissens nach – ersten reinen Comicladen aufgemacht. Damit wurde Köln für mich zum Mekka, war es doch erstmals möglich, nach Herzenslust in amerikanischen original Comicheften zu stöbern und unter fachkundiger Beratung zu kaufen. Und das war dann auch mein erster Kontakt mit den Fabulous Furry Freak Brothers. Unvergessen auch das anachronistische Aufeinandertreffen der älteren Herren Shelton, Crumb und Seyfried mit amerikanischen Superhelden und frankobelgischer Comickunst auf dem Münchner Comicfestival 2013. Glückliche – auch ältere Herrschaften – durften dann sogar im gleichen Raum mit den Künstlern in der Paulaner Brauerei das eine oder andere Bier zu sich nehmen.
Vielleicht ein wenig zu viel Historie, bevor es zu dem eigentlichen Gegenstand der Rezension kommt, aber letztendlich sind die Freak Brothers genau das – eine durchaus dicke Reise in die Vergangenheit.
Dicke Reise in die Vergangenheit: eine Feier der 60er mit Sex, Drugs and Rock 'n' Roll.
Etwa zeitgleich mit den Studentenunruhen der 68er Jahre (»Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren«) war die Geburtsstunde der Fabulous Freak Brothers. Die Freak Brothers – Phineas, Freewheelin' Franklin und Fat Freddy – waren der Gegenentwurf zum Establishment: arbeitsscheu, gammelig, chaotisch, langhaarig und auf der ständigen Suche nach Drogen, kurz gesagt: der Inbegriff des Hippies. Auch politisch konnte man sie pauschal als sozialistisch, kommunistisch und anarchisch einstufen. Sie wurden so zu einer Blaupause für einen großen Teil der damaligen Jugend. Vielleicht ist auch nur so der – für damalige Verhältnisse – große Erfolg der Comics aus einem kleinen Verlag wie Rip Off Press zu erklären.
Kleinteilige Comics, für deren Konsum starke Brillengläser durchaus von Vorteil sind.
Inhaltlich drehen sich die oft kurzen Geschichten im Wesentlichen wirklich nur darum, den Tag möglichst ohne Arbeit, Verantwortung und zugedröhnt zu verbringen und gleichzeitig der allgegenwärtigen Staatsgewalt zu entgehen. Neben den drei Protagonisten dürfen natürlich die unterschiedlichen Nebenfiguren wie Fat Freddy's Kat, die allgegenwärtige, militärisch organisierte Kakerlakenarmee oder der völlig verblendete Undercover-Spitzel Notorischer Norbert nicht unerwähnt bleiben, die wie ein Running Slapstick immer wieder die Geschichten bereichern. Fat Freddy´s Kat hatte es dann sogar zu einem »eigenen« Comic gebracht, der für Leser mit guten Augen oder ganz starken Brillengläsern am unteren Rand der eigentlichen Geschichten angeheftet war und eher komisch als in irgendeiner Beziehung kritisch war.
Wenn's zur Sache geht, gibt's aber auch mal ganzseitige Panels.
Mehrere Jahrzehnte später mag das alles ein wenig angestaubt klingen – für Spätgeborene, die sich nicht mehr vorstellen können, dass Comics der Subkultur zugerechnet wurden und das Berlin-Kreuzberg einst als Zentrum der Alternativbewegung und Hausbesetzerszene galt, mögen die Freak Brothers das Artefakt einer längst vergangenen Zeit sein. Für alle anderen – wie mich – ist dieser erste Band der Anfang einer längst überfälligen Gesamtausgabe. Ob Zweitausendeins, Volksverlag oder Rotbuch, die bisherigen Veröffentlichungen waren immer nur ein – vielleicht auch gut gemeintes – Stückwerk.
Leider habe ich nicht mehr den direkten Vergleich, aber ursprünglich wurden die Geschichten der Freak Brothers nicht nur von Gerhard Seyfried, sondern auch von Harry Rowohlt übersetzt. Warum auch immer gibt es in diesem Band eine neue Übersetzung von Lutz Müller, die ohne direkten Vergleich aber keine wirklichen Schwächen offenbart – und möglicherweise dann doch weniger anachronistisch ist.
Alles in allem eine mehr als gelungene Veröffentlichung, für die man sich einfach auch ein wenig mehr Zeit nehmen sollte (und eine Lupe).
[Stephan Schunck]
Abbildungen © 2021 avant-verlag / Gilbert Shelton
Kauft den Comic im gut sortierten Comicfachhandel: CRON-Händlerverzeichnis
Oder beim Verlag: avant-verlag